Dießen – Für den Dießener Psychiater Bert te Wildt, einem Experten zum Thema Internetsucht, ist der Mensch gerade dabei kollektiv in den medialen Raum zu übersiedeln, ein Umbruch der sich als noch fundamentaler erweisen könnte als die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg. Ich zitiere: „Ein Sonnenuntergang erscheint uns wie im Film… Es war wie im Kino, berichten Überlebende einer Katastrophe. Mittlerweile gehe ich durch die Welt, habe ständig meinen kleinen Computer dabei und frage mich, was ist medial verwertbar? …Die Medien wollen etwas von mir, ich muss sie füttern"…mit immer neuen Profilbildern. Immer schon verbarg sich hinter dem Abbilden der sichtbaren Wirklichkeit die Angst des Menschen vor dem Tod. In Form von Mumienbildnissen wollten schon die alten Ägypter ihre diesseitige Erscheinung für die Ewigkeit retten. Dank digitaler Medien entstehen heute mehr Bilder, denn je. Auf unseren Festplatten wollen wir das Leben in Bildern und Filmen buchstäblich festhalten. Sie werden uns überleben - vielleicht. Welche Konsequenzen hat das Zeitalter des digitalen Bildes für die Malerei, wenn jedes handelsübliche Mobiltelefon Bildmaterial in bester Qualität, zu jedem Zeitpunkt und an jeden denkbaren Ort dieser Erde liefert?Sollte am Ende doch Paul Delaroche mit seiner bereits 1838 geäußerten Prophezeiung recht behalten? Ist das technisch hergestellte Abbild der sichtbaren Wirklichkeit langfristig doch deren Tod?

Paul Cézanne vergleicht in einem Gespräch mit seinem späteren Biographen Joachim Gasquet die Malerei mit der Fotografie: „Der Künstler ist nur ein Aufnahmeapparat, ein Registrierapparat für Sinneseindrücke, aber ein guter, sehr komplizierter. Er ist eine empfindliche Platte, aber die Platte ist vorher durch viele Bäder in den Zustand der Empfindlichkeit versetzt worden, Studien, Meditationen, Leiden und Freuden, das Leben haben sie vorbereitet." Nicht die Leinwand wird belichtet. Ich selbst bin die empfindliche Platte. Ein bestechender Gedanke.

Ideen allein reichen dem Maler nicht. Er realisiert seine Vorstellungen im Zusammenspiel von Auge und Hand. Der Prozess des Malens eröffnet ihm einen Weg zum Erfassen der Wirklichkeit, zur Erkenntnis des Sichtbaren. Vielleicht ist ja das Arbeiten an Bildern, in welchen Medien auch immer, auch ein Mittel das Unsichtbare zu begreifen. Die Weisheit mit den Augen suchen, Malen um zu sehen. Kann uns das heute noch gelingen?

Martin Gensbaur: „Malerei im Zeitalter des digitalen Bildes", Auszug aus DAS KUNSTFENSTER Nr.2, 2015