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"Die große Abrechnung". Teil 2. Ein Interview mit der berühmten us-amerikanischen Soziologin Eileen Crist. Aus dem Amerikanischen übersetzt für aloys.news von Dr. Peter Erlenwein aus Dießen.

Eileen Crist Foto: Solitaire Goldfield

Dießen/Virginia – Eileen Crist ist promovierte amerikanische Soziologin, die 22 Jahre im Department für Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft an der Hochschule für Technologie in Virginia/USA. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf ökologischen Themen wie Artenvielfalt, Überbevölkerung, Wildnisschutz und Umweltethik. Ihr erstes Buch trug den Titel: Unsere Vorstellungen vom Tier. Anthropmorphismus undGeist der Tierwelt. Ihr neuestes Buch: Reichtum der Erde. Auf dem Weg zu einer ökologischen Zivilisation, wurde im Jahr 2019 veröffentlicht. Im vergangenen Dezember gab sie dem Journalisten Leath Tonino von der Zeitschrift ‚The Sun' ein Interview, das unter der Überschrift: Die große Abrechnung erschien. Der erste Teil des Interviews ist am 4. Februar auf aloys.news unter https://aloys.news/de/blog/kultur/die-grosse-abrechnung-teil-1-ein-interview-mit-der-beruehmten-us-amerikanischen-soziologin-eileen-crist-uebersetzt-von-dr-peter-erlenwein erschienen. 

Zweiter Teil

Eileen Christ: Die große Abrechnung

Die Geschichte der Menschheit ist eine u.a. endlose Geschichte von Kriegen, das Hauptinstrument um Land zu erobern, Ansiedlungen zu zerstören, Sklaven zu machen und Tribute einzufordern.

E: Als Nomaden erstmals zu siedeln begannen und sich das Ziel setzten, Tiere und Pflanzen zu domestizieren, wurde im Laufe der Zeit mehr und mehr Wildnis zu Kulturlandschaft umgemodelt, die man heute schließlich maschinell, inzwischen so gar digital betreibt. Wildtiere wurden plötzlich zu Feinden, bzw. Konkurrenten auf dem Feld oder Herdenräuber. Zäune und Mauern entstanden, Verstädterung nahm seinen Anfang. Die Trennung(Absonderung) des Menschen von der Wildnis vertiefte sich. Das alles trug dazu bei, ein Gefühl von Stolz zu nähren, alles im Griff zu haben, kontrollieren zu können. Gleichzeitig verlor die nicht-menschliche Welt ihrenEigenwert; sie hatte keine spezielle Bedeutung mehr, kein Selbstrecht; man konnte siev ergessen und vernichten. Die Vorrangstellung von homo sapiens wurde damit geographisch, physisch wie mental unangefochten; die offenkundig einzige Gattung, die mit Vernunft, Sprache und Kultur ausgestattet war. Etwas das, so schien es, allen anderen Lebewesen völlig abging.

Und so geht es weiter: ungefähr 95% aller Ozeane sind für die Fischerei freigegeben: industrielle Fischfangflotten töten die Tierwelten in den Meeren in unvorhergesehenem Ausmaße, als seien sie ‚natürlicherweise' menschliches Eigentum, inclusive der Ökotope, in denen sie sich befinden.Das alles gilt als normal, ja unvermeidbar, ein Netz von unhinterfragten Vorstellungen Aktionen, Institutionen und Profiteuren; dies alles beruhend auf einer nie reflektierten gewohnheitsmäßigen Annahme einer naturgegebenen Überlegenheit der menschlichen Gattung. Erst jetzt, im Angesicht von radikalem Artenschwund und Klimawechsel wird diese völlig naive Bewusstseinshaltung allmählich hinterfragt. Das macht mir Hoffnung!

Was gibt uns das Recht, riesige Ökotope wie die Meere oder Savannen für unsere konsumistischen Bedürfnisse auszubeuten und zu vernichten? Ein Stück Grasland zu kultivieren und Nutzpflanzen darauf anzusiedeln ist das Eine, das Andere ist, Land sich einfach anzueignen, es vollkommen umzustrukturieren und damit für andere Lebewesen komplett unzugänglich zu machen. Die Folge: das Verderben fruchtbaren Bodens, bei rasant zunehmender Bevölkerung. 98% der amerikanischen Hochgrasprärien beispielsweise sind so in kürzester Zeit zerstört worden- mit allem Wild darin. Oder nehmen wir die heutige industriellen riesigen Tierzuchtanstalten mit ihrer barbarischen Tierhaltung.

T: Wie kommen wir aus dieser Trance raus? Brauchen wir eine andere Geschichte über das Verhältnis zwischen Natur und menschlicher Welt, andere Wertesysteme?

E: Unser Überlegenheitsgefühl ist eine urlange historische Erbschaft, die auf einer entsprechenden Konditionierung beruht, einer komplett unbewußten verkürzten Perspektivität sozusagen. In dem Moment, wo uns diese Konditionierung wirklich/wirksam bewußt wird, können wir uns einer anderen, viel umfassenderen Realität stellen. Zum Beispiel die Wirklichkeit der Interdependenz allen Lebens auf dieser Erde- also einer ununterbrochenen Folge von Wechselwirkungen von allen Arten von Leben miteinander, von welcher wir abhängen, von der wir uns auch nicht einfach technisch abkoppeln können. Wir sind abhängig bis zum letzten Atemzug von diesem lebendigen Planeten. Und wir sind an diese Erde gebunden, nicht nur im Sinne von Überleben sondern viel tiefer: in der Frage, wer wir sind! Welche Eigenschaften wir uns auch immer zuschreiben- z.B. unsere Fähigkeit zur Kunst, zur Wissenschaft, zur Spiritualität- all dies sind Geschenke dieses Erdballs, seines Schoßes. Neugierde, Erforschung und Ehrfurcht verlangen nach einem Raum,einer Welt, einem Grund, aus dem sie hervorgewachsen sind und mit dem sie zutiefst in Verbindung stehen.

Meine Hoffnung liegt in dem Gedanken begründet, dass menschlichen Wesen auf einer ursprünglichen Ebene mit dieser Erde in Liebe verwoben sind; denn sie ist unsere Quelle. Wenn wir aus unserer Vernebelung durch die Vorstellung einer Besonderheit aufwachen, kann sich diese urschöpferische Quelle, diese Oase in einem dunklen Kosmos, wieder als das erweisen, was sie immer schon war: ein Mysterium, das nicht wir nicht erschafft haben und auch nie völlig verstehen werden. Das ist die wirkliche Geschichte!

T: Du sagst, die amerikanische Gesellschaft muß sich verändern, sie kann nicht mehr einfach so weitermachen. Dennoch wollen wir jeden Morgen frühstücken,zur Arbeit gehen etc.

C: Solange wir in unserer modernen Welt an die Stromleitungen angeschlossen sind, mit allem, was dazugehört, sind wir ziemlich eingeschnürt. Ich spreche gerade zu dir über mein Handy; dabei habe ich keine Ahnung, wo es gebaut worden ist, wer es gemacht hat, woher die Materialien kommen, aus denen es besteht. Ich habe keine Ahnung, wieviel Zerstörung seine Produktion mit sich gebracht hat oder in welchem Abfalll es schließlich enden wird. Und das ist ja nur ein Objekt. Ich könnte das Gleiche über meinen Toaster, meinen Kühlschrank u.s.w. sagen. Ich bin also in diesem System eingeschlossen- wie praktisch jeder heute- und nur aus diesem Gewirr heraus können die Antworten, die Veränderungen kommen. Allgemein gesprochen, wir müssen uns auf riesige Veränderungen einstellen, die unsere Erwartungen, unser Denken und Handeln verändern werden.

Covid ist ein Alarmsignal, das uns daran erinnert, wie plötzlich sich Dinge/Situationen radikal verändern können. Umweltaktivisten wie Wissenschaftler haben seit langem immer wieder daran erinnert: Erwarte das Unerwartete! Die Welt des 21. Jahrhundert ist unglaublich kompliziert. Es gibt eine unglaubliche Verschnellerung überall um uns herum, die Technik, das Artensterben und, und.. Das bedeutet vor allem Eines:steigende Unsicherheit. Entsprechend müssen wir bereit sein für radikaleVeränderungen. Mir scheint, das Wichtigste ist über Produktion und Konsum von Nahrungsmitteln nachzudenken. Nahrung ist so fundamental, und ist mit praktisch allem Anderen verbunden. Das heißt schlichtweg: wir brauchen Gemeinschaften, die auf gesunden Lebensmitteln basieren, welche biodynamischangebaut sind und auf fairem Handel beruhen-nahrhaftes Essen, für alle!! verfügbar. Man male sich nur eine neue Epidemie aus, die unsere Lebensmittel verseucht und eine Lebensmittelknappheit verursacht. Dann geht's um mehr als Toilettenpapierhorten.

T: Gibt es hierfür Beispiele?

C: Ja, die indigenen Gemeinschaften: Nicht im Sinne von eins zu eine Lebensmodellen, sondern als Modelle von Prinzipien. Indigene Kulturen leben an einem Ort und machen sic zu einem Subssystem dieses Erdfleckens: Das Land leitet sie, bestimmt ihren Lebensstil. Sie okkupieren es nicht und überpflastern es mit ihren Strukturen. Sie expandieren nicht so sehr und erobern, wie wir es bei sich sich der Natur überlegen fühlenden Zivilisationen finden. Erstere können sich der natürlichen Umwelt viel besser produktiv anpassen. Außerdem haben sie spirtituell gefärbte Zeremonien und Erzählungen, die die Natur ehren: Ein Danke für Gegebenes, das ist, weil es gepflegt wurde (cultura!) und damit erinnert. Damit ist die nicht-menschliche Welt als lebensnotwendig anerkannt.

Eine Hauptkomponente menschlichen Überlegenheitsempfinden ist die stillschweigende, allseits unbewußt vertretene Vorstellung, dass Tiere uns nicht sehen. Wir sind die Aktiven, Handelnden, - wir sehen sie. In einer indigenen Kultur, die Natur als ein Lebendiges wahrnimmt, sieht der Mensch das Tier, erkennt aber gleichzeitig, dass auch er selbst eine Gesehener ist. Eine auf Gegenseitigkeit beruhende Wahrnehmung also, - nicht nur mit Tieren sondern ebenso mit Pflanzen, Steinen etc. Um es noch einmal zu betonen: ich sehe indigene Kulturen in keiner Weise als buchstäblich zu begreifende Modelle, eine Art Mimikri, eine bloße Nachäffung; mich interessieren vielmehr ihre grundlegenden Prinzipien. Davon können wir lernen.

Seine eigene Gedankenwelt zu dekolonisieren und den Überlegenheitswahn loszuwerden, bedeutet Einübung in kritisches Denken: sich anzuschauen, was die Kulturanschaunungen der westlichen Welt einem als Selbstverständlichkeiten vorgaukeln; also mit wachem Sinn hinzuschauen und dann erst zu entscheiden, was man akzeptieren will und was nicht. Eine z.B. scheinbar einfache Sache aber nicht so leicht umzusetzen, ist Langsamkeit: nur wenn wir uns Zeit und Raum geben, können wir uns von blinder Akzeptanz zu kritischer Reflexion wechseln. Unserendominanten Kult der Schnelligkeit in Frage zu stellen heißt für mich, ihn in seiner Einseitigkeit zu erfassen und damit seine ‚natürliche' Selbstverständlichkeit zu durchlöchern.- Warum ist es so, dass wir dauernd und überall zu schnell fahren, essen, laufen, und hetzen? Warum sind unsere Terminkalender so vollgestopft mit Terminen und dem Glauben, man müßte sie unbedingt alle sofort erledigen, auf neudeutsch ‚multitasking' betreiben? Gleichzeitig am iPhone sein, kochen, mit mehreren kommunizieren.. Solche ununterbrochene Verschnellerung wird durch unsere Umgebung noch verstärkt; so dass man sogar beim langsamer werden wollen leicht in Eile kommt. Daher tue etwas mit Bewusstsein und Konzentrierung in Ruhe. Tue es wieder und wieder. Dann wird sich vielleicht mit der Zeit ein neuer Rhythmus einstellen.

T: Was halten Sie von dem Argument, dass die Natur des Menschen schuld an der ökologischen Krise ist?

C: Eine gefährliche Meinung insofern, als diese zu oft als Entschuldigung für Resignation, noch ungebremstere Zerstörung und schließlich zu Zynismus führt. Sie vernachlässigt die Wahrnehmung, dass die menschliche Natur alles birgt: größten Egoismus wie höchste selbstlose Hingabe und Dienst am Anderen.

T: Es gibt ja das allbekannte Argument- ‚wir alle brauchen, gebrauchen die Natur, wir müssen essen u.s.w. also all unsere Handlungen haben Auswirkungen auf sie. Das hat nichts mit Überlegenheit zutun'. Was antworten sie darauf?

C: Natürlich bedürfen wir unserer Umwelt, auch dieTiere. Aber ich bevorzuge es, das Wort gebrauchen/benutzen (use) zu vermeiden. Thomas Berry, der bekannte Ökotheologe sagte einmal: was ist das Schlimmste, was man einer anderen Person antun kann? Antwort, der Satz: Du hast mich benutzt! Er hat Recht; das ist mit das Schlimmste, was man jemanden sagen kann. Berry fuhr fort: ‚Was würde die Erde sagen, wenn sie zu uns sprechen könnte: „Ihr habt mich benutzt, deutlicher noch- mißbraucht". Genau so ist es!

Wir sollen mit der natürlichen Welt zusammenarbeiten; aber es macht einen riesigen Unterschied, ob ich Nahrung anbaue mittels einer industriell-digitalen Landwirtschaft oder einer, die auf ökologischen Prinzipien basiert. Erstere zerstört bewußt Artenvielfalt, vernichtet nicht-menschliche Lebewesen, macht den Boden unfruchtbar und verschmutzt die Umwelt mit Pestiziden und synthetischem Dünger; letztere dagegen achtet auf biologische Vielfalt und versucht, diese weiter zu erhalten. Die Prozesse der Naturwerden geachtet, dementsprechend ist auch die Qualität der Nahrung. Agroökologie arbeitet mit der Natur zusammen, egal ob in der Wildnis oder in Kulturlandschaften. Die Frage des Gebrauchens ist eine der Maßstäblichkeit. Es ist eine Sache, wenn heute zirka eine Billion Autos auf dem Globus herumfahren; werden es aber fünf Billionen, (wovon viele Schätzungen für dies 21. Jahrhundert ausgehen) ist das noch mal eine ganz andere Dimension. Was also bedeutet es, mit sehr viel weniger Autos auszukommen, sprich mit entsprechend weniger Straßenbau u.s.w.?

T: Wie groß ist das Problem Kapitalismus? Wenn er verschwände, wir aber immer noch unter dem schlechten Zauber der Überlegenheit von homo sapiens stünden,ginge es der Natur dann dennoch besser?

C: Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist der zentrale Antreiber für ökologische Zerstörung. Es reißt die natürlichen Rohstoffe der Erde an sich und verwandelt sie in Waren mit einer ungeheuerlichen Verschwendung von Natur entlang der Produktionsprozesse. Diese Zerstörung geht anheim mit einer wachsenden globalen Mittelklasse und damit einer sich weiter steigernden globalen Konsumkultur und einem immer schneller ausufernden weltweiten Handel. Massenproduktion und- konsum sind die Folge bei einer Mittelklasse von 5 Milliarden Menschen Ende dieses Jahrzehnts! Das bedeutet Erschöpfung aller irdischen Ressourcen, globale Verschmutzung größten Ausmaßes und ökologischen Ruin.

Solange die Natur vom Menschen als Privateigentum betrachtet wird, und das wäre genau der Fall- grüne Ökologie hin oder her- bleibt ihre Ausbeutung in unveränderter Weise bestehen. Fazit: Nicht allein der Kapitalismus muß beendet werden sondern genauso unsere Ideologie von der Überlegenheit der menschlichen Gattung. Wir müssen unsere Beziehung zur Erde neu gestalten, indem wir ihre Schönheit und Einzigartigkeit anerkennen und ihre lebendigen Wesenheiten- Tiere und Pflanzen- freigeben; heißt, ihnen die Räume zurückzugeben, die es ihnen erlauben zu sein, was sie sind.

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