Folge 11
Uff, jetzt klingelten aber doch ein paar Alarmglocken in meinem allzu menschlichen Hirn, weil mir Technologie insgesamt eher fremd ist. Und immerhin, wir schrieben zur Zeit des Interviews das Jahr 1991, Internet und Cyberspace waren nicht erfunden beziehungsweise noch nicht in aller Munde. Ich wollte noch mehr über Kraftwerks Umgang mit Maschinen erfahren, berief mich – Feigling, der ich gelegentlich bin – allerdings aufs heimische Feuilleton. Darin hat man Kraftwerk all die Jahre ihrer Existenz über naive Technikverherrlichung und Inhumanität vorgeworfen. Treffen die Band solche Attacken? „Diese Attacken begleiten uns seit Karrierebeginn, und trotzdem haben wir mit unseren Prophezeiungen recht behalten", analysierte Hütter stoisch. „Zum Beispiel mit der Prognose, dass moderne Populärmusik ohne technische Hilfsmittel nicht mehr möglich ist. Insofern können uns solche Vorwürfe von den Medien nicht treffen, da die Zeit und ihre Veränderungen auf unserer Seite stehen.
Im Ausland wurden wir übrigens niemals mit solchen Geschichten konfrontiert. Das ist typisch deutsch, eine wahrhaft faustische Argumentation. In anderen Ländern freut man sich nur der einfachen Tatsache, dass es uns gibt und dass wir etwas Neues ausprobieren.
Wir machen nun mal moderne Folklore, schicken Klänge aus unserer Heimat über alle Grenzen hinweg, bezeichnen uns gerne als ‚Rhein- Ruhr-Volksmusikanten'. Dass unsere Töne überall in der Welt Anklang finden, liegt am völkerverbindenden Rhythmus, der ein weitaus verständlicheres Medium ist als Worte.
Ansonsten kann man behaupten, dass Kraftwerk sich dem eisigen Beat der Neuzeit verschrieben haben. Reisen, sich bewegen, alles am Laufen halten – darum geht's in unserer Musik. Ein flüchtiger Blick genügt manchmal, um alles zu durchschauen.
Kraftwerk-Songs bieten dem Hörer zwei Möglichkeiten an: Sie dienen als ,Muzak', als Gebrauchsmusik – und sie gehen problemlos als Meditationsmusik der Moderne durch. Der Groove, der dich zur schlichten Bewegung auffordert, lädt dich im nächsten Moment auf einen Trip ins verrückte, eigene kleine Universum ein. Es ist also Musik, in die man einsteigen kann, um sich zu erkennen – und mit der man vor sich selbst davonlaufen kann.
Unser Sound ist ein Gebrauchsgegenstand für alle Lebenslagen. Darauf sind wir sehr stolz! Ob er in Kaufhäusern im Hintergrund läuft, ob ihn sich jemand bei voller Konzentration über Kopfhörer reinzieht oder ob man dazu in der Disco tanzt – er hat überall seine Berechtigung. Zur gleichen Zeit ist unsere Musik so konzipiert, dass sie immer auf dich einwirkt: Sie hat ganz bestimmt einen manipulativen Effekt. Erst diese Vielschichtigkeit macht Musik groß und zeitgemäß."
Der Kraftwerk-Sound ist demnach völlig neutral und beeinflusst dich dennoch – ist es so gemeint? Mir kam es vor, als würde Hütter ein winziges, verstehendes Lächeln auf seine Lippen zaubern, ehe er antwortete. „Richtig", freute er sich im Brustton der – relativen – Überzeugung, „wobei man noch weiter gehen könnte und behaupten, dass der Kraftwerk-Sound von Menschen für Menschen gemacht worden ist, dabei aber inhuman ist – da wir den Menschen in seiner Unperfektion ablehnen.
Unser Wesen ist ja sehr deutsch, sehr präzise, sehr perfektionistisch. Kraftwerk könnte niemals eine Trash-Metal-Band sein. Dieses Chaos der Klänge entspräche nicht unserem Naturell. Uns war und ist daran gelegen, Musik von klassischer Reinheit zu kreieren. Inwieweit der Mensch in dieser Klangwelt noch eine Berechtigung hat, kann ich nicht sagen. Es ist ja so: Durch jede neue Erfahrung gewinnen wir eine neue Identität, stirbt die alte. In der Computersprache sagt man dazu ,offenes Programm': Lediglich ein Grundstock an genetischem Material bleibt erhalten, ansonsten ist jegliche Wandlung möglich. Wir verkörpern also unsere eigenen Phantasmen. Wir sehen das moderne Leben als ein spannendes Spiel mit hohem Einsatz an, eine Art russisches Roulette. Die heutige Existenz ist ein einziges Risiko. Jede Menge lebens- bedrohender Einrichtungen sorgen für permanente Spannung, niemals zuvor konnte diesem Planeten so effizient und so rasch der Garaus be- reitet werden. Unter diesen apokalyptischen Umständen bietet kreatives Arbeiten einen merkwürdigen Reiz: Man verfügt heute über unglaubliche Denkfreiheiten, weil die Zeit diese schlichtweg erfordern."
Wenn man diesen Denkansatz noch weiter dreht, philosophierte ich, ist dann Musik für Kraftwerk die kreative Umsetzung der Tatsache, dass Leben und Tod immer noch engere Nachbarn werden? Wieder kam es mir vor, als würde Hütter versonnen lächeln: „Einerseits, ja", stellte er sachlich fest.
„Auf der anderen Seite bietet Musik aber auch die Möglichkeit, in harmonische Sphären vorzudringen. Mehr kann und mag ich mich dazu nicht äußern. Ich könnte höchstens auf einem Instrument vorspielen, was ich ausdrücken will. Denn meine Sprache sind Töne. Worte reichen da nicht heran. Höchstens die folgenden Worte: Der Tod soll durch Musik zu einem positiv besetzten Zustand umgewandelt werden – und dadurch wird gleichzeitig der alte Traum von der Unsterblichkeit der Seele wieder aufgenommen."
Fortsetzung folgt morgen
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