„Von dannen geht die stille Reise,
die Zeit der Liebe ist verklungen,
die Vögel haben ausgesungen
und dürre Blätter sinken leise.
In des Waldes leisem Rauschen
ist mir, als hör ich Kunde wehen,
dass alles Sterben und Vergehen
nur heimlich still vergnügtes Tauschen..."
Die Natur gibt uns ein Beispiel, wie man ohne Klage Abschied nimmt. Der Baum wirft seine Blätter, wirft das, was ihn am Leben erhielt, ab – ohne zu zögern, ohne zu lamentieren über diesen doch ganz erheblichen Verlust an materiellem Besitz. Er zieht sich, ganz selbstverständlich und freiwillig, in eine Erstarrung zurück, die dem oberflächlichen Blick wie Tod erscheinen mag. Aber dies ist nur die scheinbare Leblosigkeit eines Schlafenden, der Kräfte sammelt für ein neues Erwachen im Frühling.
In der Zwischenzeit sind Milliarden von Lebewesen, Würmer, Asseln, Bakterien und Pilze, damit beschäftigt, die abgeworfenen Blätter, indem sie sie fressen und verdauen, ihn ihre Grundbestandteile zu zerlegen: in Atome und Moleküle, die dem Baum dann später als Nahrung wieder zur Verfügung stehen. Recycling auf einem 100% Niveau – etwas, wovon der Mensch, der trotz all seiner Intelligenz im eigenen Müll zu ersticken droht, noch sehr weit entfernt ist.
Hier wird eines der Grundprinzipien des physischen Lebens deutlich: der ständige Wechsel von Werden und Vergehen. Auf einem Planeten wie der Erde, wo die für die Bildung von Körpern zur Verfügung stehende Materie begrenzt ist, muss alles, was aufgebaut wurde, auch wieder abgebaut werden, wenn Neues entstehen soll. Der sogenannte Tod, im Sinne eines Ablegens oder Opferns der physischen Körperlichkeit ist eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die Evolution, für die Entfaltung des Lebens in immer neuen Formen.
Vor Jahren las ich in einem Gedicht die Zeile: „Blühen ist ein tödliches Geschäft..." Ich habe den Rest des Gedichtes vergessen, ich weiß auch nicht mehr, wer der Autor ist – aber diese eine Zeile hat sich mir unauslöschlich eingeprägt: „Blühen ist ein tödliches Geschäft..."
Ich war sehr beeindruckt von dieser Formulierung, mehr noch – ich war bestürzt, beunruhigt. Blühen war für mich bis dahin Schönheit, Lebendigkeit, Vollendung. Dass nach der Vollendung der Tod kommt, daran hatte ich nicht gedacht. Blühen, sich entfalten, sich vollenden in Schönheit und Lebendigkeit – das war für mich bis dahin ein erstrebenswertes Ziel auch des menschlichen Lebens. Aber jetzt kamen Zweifel: ist dieses Ziel noch erstrebenswert, wenn es mit dem Tod bezahlt wird? Ist der Tod nicht ein zu hoher Preis für ein so kurzes Vergnügen? Ist es da nicht besser, nicht zu blühen? Denn dieser Satz bedeutet ja auch: was nicht blüht, lebt länger.
Ich habe lange gebraucht, um zu erkennen, dass dieser Satz: „Blühen ist ein tödliches Geschäft..." falsch ist, und um zu verstehen, warum er falsch ist. Ich musste erst begreifen, dass der Tod ein Teil des Lebens ist, dass das, was wir Tod nennen, keine Vernichtung des Lebens bedeutet, sondern nur eine Verwandlung, einen Kostümwechsel. Das Leben, das ewig ist, legt sein altes Kleid ab und zieht ein Neues an. Blühen ist kein tödliches Geschäft, auch wenn es bei oberflächlicher Betrachtung so erscheint, sondern eines, das der Lebendigkeit dient, das sie nicht einschränkt, sondern fördert.
Zugegeben: die Schönheit der Blüte ist nicht von Dauer. Kurze Zeit nach ihrer Entfaltung welkt sie bereits dahin und stirbt. Aber dieser „Tod" ist, wie bei der Raupe, kein Ende, keine Vernichtung, sondern nur eine Verwandlung: die Blüte wandelt sich zur Frucht.
Die Frucht aber ist auch nicht von Dauer, sie opfert sich ebenfalls, indem sie sich vollendet und dann zur Nahrung wird, oder den Weg der Fäulnis und Verwesung geht, so oder so: den Weg des Todes.
Aber auch hier ist der Tod nur Verwandlung und Häutung, ein Ablegen des Unwesentlichen, der äußeren Hülle, und eine Konzentration in das Wesentliche, Unvergängliche hinein: in eine Vielzahl von Samen. Im Samen ist die geistige Essenz der Pflanze aufgehoben, oder – zeitgemäßer ausgedrückt – ihr informatives Konzept. Und aus jedem Samen kann eine neue Pflanze werden, auch noch nach Jahrzehnten, vielleicht sogar nach Jahrhunderten.
Dies ist keine Verminderung, sondern eine Vervielfältigung des Lebensprinzips. Aus einem Getreidekorn kann, unter optimalen Bedingungen, ein Büschel wachsen, das zwanzig Ähren trägt, von denen jede wiederum bis zu fünfzig Körner enthalten kann – eine Rendite, die den Einsatz vertausendfacht. Keine menschliche Investitionsform könnte etwas Vergleichbares leisten – es sei denn ein Lotteriegewinn. Aber wem ist der schon vergönnt? Die Natur hingegen produziert solche „Lotteriegewinne" am laufenden Band.
Voraussetzung aber dieser Vervielfältigung des Lebens ist der Tod, das Opfer der sterblichen Hülle, des materiellen Körpers. „Die Natur hat den Tod erfunden, damit sie mehr Leben habe", schrieb Johann Wolfgang von Goethe. Die Zellen unseres Körpers können sich etwa fünfzigmal teilen, dann sterben sie ab. Dies ist nicht eine zwangsläufige Konsequenz ihrer Struktur, sondern es erscheint eher so, als ob ihnen eine begrenzte Lebensdauer einprogrammiert wäre.
Die begrenzte Teilungsfähigkeit ist eine Eigenschaft der gesunden, in den Organverband integrierten Zelle – die Krebszelle kennt diese Grenze nicht. Sie hat sich aus dem Zellverband ausgeklinkt und verfolgt, ohne Rücksicht auf den Organismus, nur noch ihre egoistische Absicht der eigenen Vermehrung. Dabei kann sie sich anscheinend unbegrenzt teilen und so für sich das Prinzip der „Unsterblichkeit im Fleische" verwirklichen. Dies allerdings hat für den Organismus, von dem sie ein Teil ist, tödliche Folgen – und damit stirbt auch die Krebszelle. Ihr Streben nach „Unsterblichkeit im Fleische", ihr egoistisches Ausscheren aus dem Gesamtverband des Organismus, hat ihr den Tod gebracht.
Für den „Organismus Erde", für den Gesamtverband aller Lebewesen auf unserem Planeten, hätte es ebenso tödliche Folgen, wenn ein Lebewesen sich aus der Gesamtheit lösen und für sich die „Unsterblichkeit im Fleische" verwirklichen würde. Sie ist weder sinnvoll, noch wünschenswert – sie würde die Fülle und Vielfalt des Lebens, wie wir sie kennen, nur verhindern. Wenn es sie gäbe, hätte die Evolution bereits vor mehr als drei Milliarden Jahren (wenn diese Berechnung stimmt), nach der Entstehung unsterblicher Bakterien, ihr Ende gefunden.
Die Materie, aus der Lebewesen ihre Körper aufbauen, vorwiegend Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff und Stickstoff, ist auf diesem Planeten nur in begrenzter Menge vorhanden. Wenn immer wieder neue Körper gestaltet und entwickelt werden sollen, müssen die alten Körper immer wieder zerlegt und aufgearbeitet werden. Und die evolutive Intelligenz hat eine ganze Fülle von Lebewesen entwickelt, die mit dieser Aufgabe befasst sind.
Voraussetzung dafür, dass dieser Prozess funktioniert, ist aber die Bereitschaft der einzelnen Lebewesen, beziehungsweise ihrer geistigen Essenz, sich nach einer bestimmten Zeit von dem materiellen Körper, in dem sie sich verwirklicht haben, zu trennen – was man dann gemeinhin „sterben" nennt. Diese Trennung, dieser sogenannte „Tod" ist eine Voraussetzung der Vielfalt des Lebendigen, ein Förderer des Lebens, nicht sein Beschränker oder gar Vernichter.
Die Ebene der physischen Körper, die Ebene der materiellen Bindungs- und Lösungsprozesse, ist die Ebene ständigen Wechsels und Wandels. Wer hier Ewigkeit oder Unsterblichkeit sucht, befindet sich auf dem Irrweg. Wer hier Sicherheit und Geborgenheit sucht, wird keine finden – höchstens Zeitgenossen, die ihm oder ihr, für teures Geld, die Illusion von Pseudosicherheit in Form von Hausrats-, Unfall-, Kranken-, Lebens- und sonstigen Versicherungen verkaufen. Aber die Lebensversicherung schützt ebenso wenig vor dem Tod, wie die Unfallversicherung vor Unfall, oder die Diebstahlsversicherung vor Einbruch – sie mildern allenfalls die Folgen, den materiellen Verlust.
Die Natur kennt dergleichen nicht. Sie hat keine Angst, materielle Dinge aufzugeben, zu opfern, zu verlieren. Denn sie weiß ja, dass nichts wirklich verloren geht, weder Materie, noch Energie, noch Information.
Im Frühling atmet die Natur sich aus, in die Prachtentfaltung des Sommers hinein, bildet aus Atomen und Molekülen die schönsten Formen, Figuren und Muster, wahrhaftige Kunstwerke in Vollendung, ebenso faszinierend wie vergänglich. Denn im Herbst und Winter zieht die Natur sich, einatmend, wieder in sich selbst zurück und zerstört, beiläufig, den größten Teil ihrer sommerlichen Kunstwerke. Aber nur, um sie, nach einer kurzen Atempause, im folgenden Frühjahr, schöner, größer und vielfältiger, neu zu erschaffen. Nichts geht verloren – weder Materie, noch Energie, noch Information.
Jede Jahreszeit hat ihre eigene Farbpalette – sanft und noch ein wenig blass: der Frühling. Kraftvoll und mit klaren Farben der Sommer, fast farblos und vorwiegend in düsterem Braun und Grau der Winter. Die farbigste Jahreszeit aber ist der Herbst. Als wolle sie es noch einmal allen zeigen, verabschiedet sich die Natur mit einer Orgie von warmen Farben in den Winterschlaf, mit allen Variationen von Gelb und Rot und Orange, durchsetzt von unvergessenem Grün und Blau und Violett – ein Abgesang sozusagen mit visuellen Pauken und Trompeten.
Und so vollzieht sich das Spiel des Lebens im ewigen Rhythmus, im Wechsel von Sommer und Winter, Fülle und Mangel, Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Schlafen und Wachen, im Einatmen und Ausatmen, im Öffnen und Schließen des Herzmuskels, im Geben und Nehmen. Und nur so ist physisches Leben möglich: im Wechsel des Gegensätzlichen, im Austausch von Materie, Energie und Information. Wer nur einatmen will, wird mit der gleichen Sicherheit ersticken, wie jemand, der nur ausatmet. Wer die Gestalt die er (oder sie) sich gebildet hat, um jeden Preis erhalten, wer sich nicht ändern, sich nicht wandeln will, erstarrt. Und diese Erstarrung ist der wahrhafte Tod – der leider auch, und sogar recht häufig, bei lebendigem Leibe eintritt. Denn Leben heißt: sich wandeln.
Auch hier hat – wie so oft – die Werbung unrecht, indem sie eine junge Frau herumlaufen und singen lässt: „Ich will so bleiben wie ich bin!", worauf eine Flüsterstimme antwortet: „Du darfst!" Denn das darf sie, kann sie, wie wir alle, mit Sicherheit nicht: so bleiben, wie sie ist. Vieles ist dem Menschen möglich, aber eines ist ihm ganz gewiss unmöglich: sich nicht zu ändern. Nicht einmal, wenn er aus Granit wäre, wäre es ihm möglich, sich nicht zu ändern.
Die Berge waren einst Täler und sie werden wieder zu Tälern werden. Die Täler waren einst Berge und sie werden wieder zu Bergen werden. Auf den Gipfeln des Himalajas findet man versteinerte Muscheln, die zeigen, dass die Bergeshöhen vor Zeiten Meerestiefen waren.
Die Natur ist nicht zimperlich, was die Umwandlung der materiellen Formen und Gestalten angeht. Stürme, Unwetter, Vulkanausbrüche, Erdbeben, dörrende Sonnenhitze, klirrende Winterkälte, die unzählige Körper vernichten, das allgemein übliche Fressen und Gefressen werden – dies alles veranlasst den empfindsamen Menschen dazu, die Natur als „grausam" zu bezeichnen. Aber auch dieser Aspekt der Natur, der Gewaltsame, Zerstörende, Vernichtende, ist ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil der Schöpfung. Auch dieser Aspekt des Lebens ist göttlich.
In der indischen Mythologie hat sich diese Erkenntnis noch erhalten: in den drei Hauptgöttern Vishnu (dem Erbauer), Brahma (dem Lenker und Erhalter) und Shiva (dem Zerstörer) – jenen drei Grundaspekten, in die das eine, allumfassende, göttliche Prinzip sich aufteilte, um die Schöpfung zu gestalten. Und die Inder sind sich – oder waren es zumindest – darüber im Klaren, dass diese Dreiheit nichts mit moralischen Wertungen, mit Begriffen wie „gut" oder „böse" zu tun hat.
Im Zusammenhang eines größeren Ganzen, wie es beispielsweise der Körper eines Menschen ist, oder der lebendige Planet Erde, der ja auch als ein Organismus betrachtet werden kann, oder der Kosmos als Ganzes, der, weil er Leben hervorbringt, logischerweise selbst lebendig sein muss (zumindest gibt es bislang nirgendwo ein Beispiel dafür, dass etwas Lebendiges aus etwas Totem entstehen könnte) – ist das destruktive Prinzip ebenso wichtig wie das Konstruktive.
Das aufbauende Vishnu-Prinzip ist an sich ebenso wenig „gut", wie das zerstörende Shiva-Prinzip „böse" ist. Man kann sich dies leicht am Beispiel einer Krebszelle klar machen, in der sich das aufbauende Prinzip verselbständigt und aus dem Gesamtzusammenhang des Organismus gelöst hat. Sie pflegen wir als „böse" oder „bösartig" zu bezeichnen, während das Immunsystem mit seinen Fresszellen, das Krebszellen oder körperfremde Eindringlinge vernichtet und hier das zerstörende Prinzip verkörpert, als „gut" und nützlich angesehen wird.
Aufbau und Zerstörung sind gleichwertige Bestandteile der Schöpfung – aber sie müssen in einem koordinierten Prozess aufeinander abgestimmt sein und ins Gleichgewicht gebracht werden. Dass die Natur dies so mühelos leistet, setzt ein koordinierendes Prinzip, eine lenkende Intelligenz voraus – die Inder symbolisierten sie in Brahma, dem Lenker und Erhalter.
Die moderne westliche Wissenschaft hat – leider – noch keinen Namen für dieses Prinzip gefunden – ja sie hat es noch nicht einmal richtig zur Kenntnis genommen. Aber die Tatsache, dass die Natur auf diesem Planeten es geschafft hat, über viele Millionen Jahre des Werdens und Vergehens, der sommerlichen Fülle und des winterlichen Mangels, die Aktivitäten aller Lebensformen, von den Bakterien bis zu den Walfischen, zu einem stabilen und in seiner Gesamtbilanz ausgeglichenen System zu koordinieren – das allein ist Beweis genug für das Vorhandensein einer höheren, schöpferischen Intelligenz. Denn kein unintelligentes, zufallsgesteuertes Prinzip könnte derartiges leisten.
Noch einmal: Die Ebene der physischen Körper, die Ebene der materiellen Bindungs- und Lösungsprozesse, ist die Ebene ständigen Wechsels und Wandels. Wer hier Ewigkeit oder Unsterblichkeit sucht, befindet sich auf dem Irrweg. Wer hier Sicherheit und Geborgenheit sucht, wird keine finden.
Jenseits dieser Ebene des „Stoffwechsels", der Unbeständigkeit und des Wandels aber befindet sich eine Ebene der Beständigkeit, der Unsterblichkeit – die Ebene der geistigen Urbilder oder Entelechien, die Heimat unserer Seelen. „Wohl ist alles in der Natur Wechsel", schrieb Goethe, „aber hinter dem Wechsel ruht ein Ewiges."
Unsterblichkeitsbewusstsein ist also eine Frage der Anschauung: wer sich mit dem physischen Körper identifiziert, identifiziert sich mit Zerfall, Alter und Tod. Wer sich aber mit seiner geistigen Essenz identifiziert und den Körper als eine Art Instrument begreift, dessen sie sich zur Ausführung gewisser Vorhaben bedient, wird der Unsterblichkeit teilhaftig und erkennt all seine Tode als bloße Häutungen, als Metamorphosen auf dem Weg zur Vollkommenheit.
Abgesehen vom Menschen scheinen sich alle Lebewesen mit dem Prinzip des Todes, dem Ablegen des physischen Körpers, nach entsprechender Zeit, nach Tagen, Monaten oder Jahren, einverstanden erklärt zu haben.
Die Blume beispielsweise stirbt, wenn sie sich vollendet hat, mit einer Selbstverständlichkeit und Grazie, die den meisten Menschen am Ende ihres Lebens nicht gelingt. Viele Menschen trennen sich nur sehr unwillig und mühsam von ihrer „sterblichen Hülle".
Warum? Weil sie nicht um die Unsterblichkeit ihrer geistigen Essenz wissen? Vermutlich. Vielleicht aber auch deshalb, weil sie ihr inneres Potential, weil sie ihr wahres Wesen nicht zur Entfaltung gebracht, weil sie nicht „geblüht" haben. Wer sich selbst verwirklicht und seine Lebensaufgabe erfüllt hat, kann leichten Herzens Abschied nehmen – und tut dies gewöhnlich auch, wie die Erfahrung zeigt.
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden", heißt es im 90. Psalm. Lasst uns aber auch nicht vergessen, dass wir leben müssen – und dafür brauchen wir in der Tat alle Klugheit, derer wir habhaft werden können. Und die wir nicht zuletzt daraus gewinnen, dass wir dem Tod ins Auge schauen und auch der Konsequenz, die sich aus ihm ergibt: dass wir nämlich allen materiellen Besitz eines Tages aufgeben und in der irdischen Welt zurücklassen müssen. Und dass wir ins Jenseits, in die geistige Welt, nur unsere geistigen Errungenschaften mitnehmen können.
Unser gegenwärtiges Leben ist das Leben vor dem Tod, und es nicht zu leben, wäre Verschwendung. Und wenn es einen Sinn hat, wovon wir auf Grund von Erfahrung und Überlegung ausgehen können, dann wohl in erster Linie, wie bei allen anderen Lebewesen auch, den, sich selbst zu verwirklichen und sein wahres Wesen zur Entfaltung zu bringen. Und damit erfüllen wir gleichzeitig auch unsere Aufgabe in jenem größeren Ganzen, von dem wir ein Teil sind.
Die Statistiken sagen, dass wir immer älter werden, dass die Hälfte der Kinder, die heute geboren werden, eine gute Chance hat, hundert Jahre alt zu werden oder sogar noch mehr. Und weil das so ist, müssen wir das Alter neu bewerten, müssen uns darüber klar werden, dass nicht mehr ein passives, dem allmählichen Verfall hilfloses Ausgeliefertsein unser Schicksal ist, sondern vielmehr ein aktives, selbstbestimmtes, kreatives und tätiges Leben – bis zu seinem Ende.
Wir können, wenn wir uns entsprechend verhalten, auch im hohen Alter noch gesund, fit und vital sein. Und wenn wir schon immer länger leben, warum sollten wir dann nicht die zusätzliche Zeit, die uns geschenkt ist, produktiv nutzen? Wir sind keine Pflanzen, die welken und verfallen, nachdem sie geblüht haben, um Früchte und Samen zu bilden, die das Fortleben der Art garantieren. Wir sind Menschen, und egal ob wir für den Fortbestand unserer Spezies gesorgt haben, oder nicht – wir können tätig sein, wachsen und blühen bis zum letzten Atemzug. Und weil wir es können – was spricht dagegen, es zu tun?
Was aber den Tod angeht, so lehren uns ebenfalls Erfahrung und Überlegung, dass er nicht das Ende des Lebens bedeutet, sondern nur den Übergang in eine andere Ebene der Realität, einen Kostümwechsel, eine Verwandlung. Der Tod gibt uns, immer wieder, die Chance uns zu häuten, um in neuer Gestalt zu erscheinen, um immer weiter wachsen zu können. Der Tod ist, mindestens in gleichem Maße wie das Leben, ein Garant für unser spirituelles Wachstum.
Kein Grund, den Tod zu fürchten. Kein Grund, das Leben zu fürchten. Kein Grund, nicht mit Freuden zu leben. Kein Grund, nicht mit Freuden zu sterben.
Denn wir sind ewig und unsterblich und nichts kann uns schaden. Und wenn wir, durch die Tür des Todes schreitend, dieses Leben verlassen, treten wir gleichzeitig in ein anderes ein. Und danach in ein neues, und immer so weiter – bis ans Ende der Unendlichkeit.
Der Autor lebt in Dießen. Von 1976 bis 1985 war der Journalist festangestellter Fernsehredakteur im Familienprogramm des NDR, wo er zuerst verschiedene Kinder- und Jugendprogramme betreute, später dann Dokumentarfilme und Dokumentarserien. 1985 wechselte er in die Hauptredaktion Kultur und Wissenschaft des ZDF, wo er bis 1987 für die Sendereihe Einblick verantwortlich war.
Dieser Text stammt aus dem Kindle-E-Book „Wirf deine Fesseln ab und fliege – Anregungen für ein Leben in Freiheit".
https://www.amazon.de/Wirf-deine-Fesseln-fliege-Anregungen-ebook/dp/B07582D1Z5/ref=sr_1_7?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=LKYNZVIHKWD4&keywords=Eichelbeck&qid=1665961635&s=books&sprefix=eichelbeck%2Cstripbooks%2C373&sr=1-7
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