Wie sollen wir damit umgehen?
Den individuellen Umständen entsprechend kann die kommende Situation, wie bisher auch, unerheblich sein, lästig, schmerzlich oder sogar existenzbedrohend und das vielleicht noch einen Gang höher geschaltet. Und damit ist nun endgültig und unausweichlich unsere Solidarität gefordert: Rücksicht, Mitgefühl und gegenseitige Hilfe – Kooperation statt „Kampf ums Dasein" ist das Gebot der Stunde. Und das war sie um Grunde schon immer. Tatsächlich zeigt eine genaue und unvoreingenommene Betrachtung der Natur, dass die Kooperation der wichtigste Faktor der Evolution war und ist, und nicht Darwins „war of nature" und „survival of the fittest".
Kooperation findet auf diesem Planeten in allen Lebensbereichen in einem derartigen Ausmaß statt – von einfachen „Eine-Hand-wäscht-die-andere-Strategien" bis hin zu höchst komplexen symbiotischen Systemen – dass es schwer zu verstehen ist, warum die darwinistische Biologie diesen Sachverhalt so beharrlich übersehen hat. Und dass die menschliche Mehrheit, trotz Jahrtausende langer schmerzlicher Erfahrungen, immer noch nicht bereit ist, der Kooperation die Bedeutung beizumessen, die für das Wohlergehen unserer Gesellschaft notwendig wäre.
Jeder Mensch ist ein einzigartiges Individuum, das für sich allein besteht, wie eine Insel im Ozean. Aber wie alle Inseln unter Wasser durch den Meeresboden miteinander verbunden sind, so sind auch alle Menschen unterschwellig miteinander verbunden und Teil eines größeren Ganzen. Wir vergessen das leicht, weil viele Dinge, die wir der Gemeinschaft verdanken, so selbstverständlich sind. Wenn das Licht angeht, sobald wir den Schalter drücken, aus dem Wasserhahn frisches Trinkwasser fließt, sobald wir ihn aufdrehen, wenn wir in Geschäften oder im Internet Nahrung, Kleidung oder Gebrauchsgüter kaufen können, und auf Knopfdruck Unterhaltung auf den Bildschirm zaubern – dann nur deshalb, weil andere Menschen das für uns bereitgestellt haben.
Wären wir ganz auf uns selbst gestellt, könnten wir uns das nicht leisten, ja nicht einmal auf Dauer überleben. Wir brauchen die Gemeinschaft, die Gemeinschaft braucht uns, und damit sie funktioniert, müssen wir alle mehr miteinander arbeiten als gegeneinander. Und da alles, was wir tun – direkt oder indirekt – zu uns zurückkommt, sollten wir Rücksichtslosigkeit, Gier, Gewalt und Missgunst vermeiden und uns an das Wort von Jesus halten: „Was du willst, das ein anderer Mensch dir tue, das tue du ihm auch."
Wir geben unsere Individualität nicht unbedingt auf, wenn wir uns in eine Gemeinschaft einbringen. Und gerade durch unsere besondere Individualität können wie hier auch einen besonderen Beitrag leisten. Die einzige Möglichkeit, sie zu verlieren, besteht darin, sie nicht angemessen zum Ausdruck zu bringen. Und wenn eine Notsituation es erfordert, dass wir gewisse Gewohnheiten und Tätigkeiten einschränken oder aufgeben, sollten wir das nicht als Opfer betrachten, sondern als einen selbstverständlichen Beitrag zum Gemeinwohl, das auch unser eigenes Wohl mit einschließt. Jedenfalls solange das, was gefordert wird, nachvollziehbar notwendig und angemessen ist und nicht auf ideologischer oder bürokratischer Willkür beruht.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Not – in diesem Fall Nahrungsmangel – nicht zu einem gnadenlosen „Kampf ums Dasein" führt, sondern durch eine kooperative Strategie überwunden wird, liefert eine unscheinbare Amöbe: der Schleimpilz Dictyostelium discoideum. Der Name Schleimpilz ist ein wenig irreführend, denn es handelt sich hier nicht um einen Pilz im üblichen Sinne, sondern um einzellige Amöben, die normalerweise jede für sich allein herumkriechen, Bakterien fressen und sich durch Teilung fleißig vermehren. Nichts Besonderes im Reiche der Einzeller. Bemerkenswert ist nur ihre Reaktion, wenn die Nahrung knapp wird.
Sobald eine Amöbe zu hungern beginnt, sendet sie einen chemischen Botenstoff aus. Andere Amöben, die das Signal auffangen, geben es weiter, indem sie ebenfalls diesen Botenstoff produzieren. Wenn er eine bestimmte Konzentration erreicht hat, strömen alle Amöben im Umkreis zusammen – manchmal bis zu 100.000 Stück – und formen ein schneckenartiges Gebilde. Indem sie jetzt alle koordiniert und synchron handeln, bewegen sie sich wie eine winzige Nacktschnecke, von ihren Wärme- und Lichtsensoren geleitet, in Richtung auf einen warmen, sonnigen Platz. Dort formen sie eine Halbkugel, aus der ein Stil emporwächst, der dadurch entsteht, dass einige der Amöben sich aufrichten, verhärten und absterben, andere an ihnen emporklettern, sich ebenfalls verhärten und absterben und so weiter. Nachdem etwa 20 Prozent der Amöben sich so für die Allgemeinheit geopfert haben, klettert der Rest den Stiel empor, bildet einen Fruchtkörper und verwandelt sich in Sporen. Bei Gelegenheit platzt der Fruchtkörper auf, Wind oder Regen tragen die Sporen davon, in nahrungsreichere Gefilde, aus jeder Spore wird eine Amöbe – und das Spiel beginnt von neuem.
Die Wissenschaftler sind schon seit langem von „Dicty" oder „Grex" – wie die Amöbe auch genannt wird – fasziniert. Ihre Wahrnehmungsfähigkeit, ihre Kommunikation und Kooperation ist ebenso erstaunlich wie rätselhaft. Aber das entscheidende ist hier die Tatsache, dass Hunger und Not nicht zu einem darwinistischen „Kampf ums Dasein" führen, sondern durch eine kooperative Lösung, durch Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe – bis hin zum Opfer für die Allgemeinheit – überwunden werden.
Wir sind nicht gefordert, so weit zu gehen wie Dictyostelium discoideum und uns für die Gemeinschaft aufzuopfern – aber wir sollten uns diesen schlichten Schleimpilz durchaus zum Vorbild nehmen: indem wir rücksichtsvoll miteinander umgehen und uns gegenseitig helfen.
SARS-CoV-2 mutiert munter vor sich hin und wird noch eine ganze Weile ein Problem bleiben. Der Ukraine-Krieg und die Erderwärmung ebenso. Ganz abgesehen von all den anderen Baustellen, wie zum Beispiel Umweltzerstörung, Terror, Armut, Rassismus und Unterdrückung von Minderheiten. Und wenn wir diese schwierigen und schmerzlichen Herausforderungen bewältigen wollen, gibt es nur eine Lösung: Kooperation. Verbunden mit Kreativität, Flexibilität, Ausdauer und dem Mut, Vorurteile fallen zu lassen und auch unorthodoxe Ideen und Lösungen zu akzeptieren.
(Zeichnung: Reinhard Eichelbeck, aus dem Buch „Als das Nichts den Urknall zündete, badete Gott seine Füße in Quantenschaum".)
Reinhard Eichelbeck ist Journalist und Schriftsteller und war jahrzehntelang in den "Kultur und Wissenschafts"- Abteilungen von ARD und ZDF beschäftigt. Dieser Text ist ein umgearbeiteter Ausschnitt aus seinem E-Book "Als das Nichts den Urknall zündete, badete Gott seine Füße in Quantenschaum: Märchen und Wahrheiten über das Leben und die Welt". https://www.amazon.de/Nichts-Urknall-z%C3%BCndete-badete-Quantenschaum-ebook/dp/B01M12YF Der Autor lebt in Dießen.
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