Pähl – Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahre 2011 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel den kompletten Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie bis Ende 2022 durchgesetzt. Jetzt sind noch drei Atomkraftwerke in Betrieb; in Lingen an der Ems, in Neckarwestheim und ISAR 2 bei Landshut. Gemäß dem seinerzeit vom Bundestag verabschiedeten Atomgesetz sollen auch sie zum Jahresende ihren Betrieb einstellen. Doch angesichts der prekären energiepolitischen Lage ist ein heftiger politischer Streit entbrannt, ob es dabei bleiben soll. Die CDU/CSU drängt auf einen Weiterbetrieb, die Ampel-Regierung ist gespalten. Die FDP ist ebenfalls gegen ein Abschalten, während SPD und GRÜNE nicht davon abrücken wollen, aber einen Weiterbetrieb auch nicht mehr prinzipiell ausschließen.

In die Diskussion haben sich nun – es wurde Zeit – auch Fachleute eingeschaltet. Im Anschluss an eine Tagung am 9. und 10. Juli an der Universität Stuttgart zur deutschen „Energiewende" wurde von drei Professoren der Energiewissenschaft eine sogenannte „Stuttgarter Erklärung" verfasst. Darin fordern André D. Thess (Universität Stuttgart: Energiespeicherung), Harald Schwarz (Brandenburgisch Technische Universität Cottbus-Senftenberg: Energieverteilung und Hochspannungstechnik) und Michael Beckmann (Technische Universität Dresden: Energieverfahrenstechnik) die Einleitung von entsprechenden Maßnahmen, „um deutschen Kernkraftwerken den Weiterbetrieb zu ermöglichen". Professoren drücken sich gerne langatmig aus. Doch dieser Text ist anders. In wenigen Sätzen werden die Argumente für ein Weiterlaufen der Kernkraftwerke dargelegt:

„Mit einseitiger Ausrichtung auf Sonne, Wind und Erdgas wurde Deutschland in Energienot manövriert. Steigende Energiepreise und sinkende Versorgungssicherheit gefährden Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Das Festhalten am deutschen Atomausstieg verschärft diese Gefahren und bremst – zusammen mit anhaltender Kohleverstromung – den internationalen Klimaschutz. Der Weltklimarat IPCC bezeichnet die Kernenergie als ein Instrument des Klimaschutzes. Die Europäische Union ordnet Kernenergie als nachhaltige Energiequelle ein. Auf dieser Grundlage plädieren wir für den Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke als dritte Klimaschutzsäule neben Sonne und Wind. Wir fordern die sofortige Aufhebung der Atomausstiegs-Paragraphen (insbesondere §7 Atomgesetz) und eine Prüfung der sicherheitstechnischen Betriebserlaubnis, um deutschen Kernkraftwerken den Weiterbetrieb zu ermöglichen."

Sechzehn weitere Universitätsprofessoren, die größtenteils der Energiewissenschaft angehören, haben die Erklärung ebenfalls unterzeichnet. Sie wurde am 26. Juli 2022 beim Petitionsausschuss des Bundestages eingereicht. Nach einer Frist von drei Wochen, in der die Zulässigkeit der Petition überprüft wird, kann die Petition von jedem Bundesbürger mitgezeichnet werden. Bei Erreichen von 50.000 Unterschriften werden die Verfasser der Petition in einer öffentlicher Ausschusssitzung des Bundestages gehört. Doch es ist zu hoffen, dass die Regierung schon vorher zur Besinnung kommt und die notwendigen Maßnahmen einleitet, damit die Atomkraftwerke auch nach dem 31. Dezember weiter Strom produzieren können.

Im ersten Halbjahr 2022 haben sie 18 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt. Damit trugen sie rund sieben Prozent zur gesamten Stromproduktion von 252 Milliarden Kilowattstunden bei. Das erscheint nicht viel, aber wenn es jetzt, wie Minister Robert Habeck in seinen Spar-Appellen sagt, auf jede Kilowattstunde ankommt, sollte man nicht auf die vielen Milliarden Kilowattstunden aus den Kernkraftwerken verzichten.

Die Bedeutung der Atomkraftwerke liegt aber gar nicht so sehr in der von ihnen insgesamt gelieferten Strommenge sondern darin, dass sie rund um die Uhr, Tag und Nacht, ob der Wind weht oder nicht, verlässlich Strom liefern. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die deutschen Atomkraftwerke zu den besten Anlagen weltweit gehören und bestens in Schuss sind. Nach einem Gutachten des TÜV Süd wäre ein Weiterbetrieb von ISAR 2 über den Dezember hinaus technisch ohne weiteres machbar.

Nach den bisherigen Planungen will die Bundesregierung den Wegfall der Stromproduktion aus den Atomkraftwerken durch die Reaktivierung von Kohlekraftwerken ausgleichen. Ursprünglich sollten Gaskraftwerke die Lücke schließen, aber das ist angesichts der gefährdeten Gasversorgung aus Russland vollkommen in Frage gestellt. Mit der Wiederinbetriebnahme von Kohlekraftwerken spräche die Bundesregierung ihrer Klimapolitik Hohn. Kohle ist nun einmal der Energieträger, bei dessen Nutzung mit Abstand das meiste Kohlendioxid (CO2) entsteht, während Atomkraft ebenso wie Sonne und Wind praktisch CO2-frei ist. Zudem hat die Stromproduktion mit Kohle die meisten Toten zur Folge. Wie Professor Thess in einem Interview mit dem Münchner Merkur am 18. Juli ausführte, hat die Produktion von 1 Milliarde Kilowattstunden Kohlestrom 25 Tote zur Folge. In die Berechnung gehen Unfälle in Bergwerken und die Todesfälle durch Luftverschmutzung ein. Bei der Atomenergie liegt die entsprechende Zahl bei 0,03; in der gleichen Größenordnung wie bei Wind und Sonne.

Diejenigen, die am Vollzug des Atomausstiegs zum Jahresende festhalten wollem, verweisen auf das Restrisiko einer Reaktorkatastrophe. In der Schweiz ist vor einigen Jahren der Versuch unternommen worden, die Schäden und die Wahrscheinlichkeit von allen denkbaren Naturkatastrophen und technischen Katastrophen abzuschätzen. Die Ergebnisse sind in der folgenden Graphik dargestellt. Man sieht, dass eine großflächige länger anhaltende schwerwiegende Störung der Stromversorgung, eine sogenannte Strommangellage, die größte aller denkbaren Katastrophen wäre. Dagegen verblasst sogar ein Unfall in einem Atomkraftwerk (KKW-Unfall). Und vor allem, ein solches Ereignis ist viel wahrscheinlicher als ein KKW-Unfall.

Um sich das klarzumachen, muss man kein Experte sein. Die Stromversorgung ist für unser Leben so wichtig wie der Blutkreislauf für den einzelnen Menschen. Kommt sie zum Erliegen, treten immense Schäden auf, nicht nur materielle Schäden, es würden auch viele Menschen sterben. Der Verlust von Menschenleben ist in den „monetarisierten Schaden" in der Schweizer Graphik eingerechnet. Aus der Graphik, das heißt, aus den dahinter stehenden Kalkulation, folgt unmittelbar, dass alles unterlassen werden muss, was die Stromversorgung unsicherer macht. Das gilt für Deutschland genau so wie für die Schweiz.

Mit der Abschaltung auch noch der letzten Atomkraftwerke in Deutschland würde aber genau das geschehen. Die Kohlekraftwerke, die sie ersetzen sollen, sind kein gleichwertiger Ersatz. Was ist, wenn doch wieder einmal ein sehr strenger Winter kommt und Kanäle und Flüsse einfrieren, oder wegen niedriger Wasserstände im Rhein oder sonstiger Umstände der Nachschub an Kohle stockt? Abgesehen von einigen Braunkohlekraftwerken sind die deutschen Kohlekraftwerke auf den Import von Kohle angewiesen.

Bei der Stromversorgung muss auch der Fall einer „Dunkelflaute" in Betracht gezogen werden. Es kann vorkommen, dass ein, zwei Wochen kalter Nebel über Deutschland liegt und kein Wind weht, die Stromproduktion von Sonne und Wind also bei Null liegt. Dann wird jedes konventionelle Kraftwerk gebraucht. Das Abschalten der Atomkraftwerke, man mag es drehen und wenden, wie man will, macht die Stromversorgung etwas unsicherer. Und dieses Risiko ist um ein Vielfaches höher als ein schwerwiegender Unfall in einem der drei Atomkraftwerke. Wenn die Regierungsmitglieder ihren Amtseid ernst nehmen – Schaden vom deutschen Volk abzuwenden – müssen sie dafür sorgen, dass die Kraftwerke weiter in Betrieb bleiben.

Hans Dieter Sauer schreibt regelmäßig für aloys.news über naturwissenschaftliche und politische Themen. Der Dipl.-Phys lebt in Pähl.


Mit freundlicher Genehmigung des Merkur und des Autors.