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"Ernesto, der Seebär – Vom Tretauto zum Schlachtschiff" Erinnerungen des 90-jährigen Dießener Ernesto Rudolf Hofmann. Auf der Insel Java geboren, landet er auf seine alten Tage am Ammersee. Der Fortsetzungsroman eines bewegten Lebens: Folge 23

Ernesto Rudolf Hofmann ist der Seebär. Graphik: Pax et Bonum Verlag

Folge 23

Die „Praxis" beinhaltete unter anderem Besuche von Schiffen, die gerade zufällig im Hafen waren. Unser Ziel war die Funkstation und die sonstige elektronische Anlage auf der Brücke, die mit zu unserem Aufgaben- und Betreuungsbereich gehörte. Dazu zählten die Kurz- und Mittelwellen-Funkanlagen und -empfänger, die Radaranlagen, Peilgeräte, das automatische Alarmgerät, das Echolot, die Not-Sende- und Empfangsanlage sowie die Funkanlagen der Rettungsboote und die Notstrom-Batterieanlage. Der Unterhalt sämtlicher Antennen gehörte mit dazu. Auch das bescherte dem Funker manches Erlebnis.

Es gab noch weitere Navigationshilfen wie Loran (Long Range Navigation) und Decca, benannt nach seinem Hersteller, mit denen man seine Position auf See bis fast auf den Zentimeter genau bestimmen konnte. Von beiden besaß ich gewisse Kenntnisse, die ich aber schon längst vergessen habe, weil sie bei der Handelsschifffahrt in der Praxis kaum angewendet wurden. Bei uns stand die Astronavigation noch hoch im Kurs. Von GPS hatte man damals noch keine Ahnung! Loran und Decca basierten auf Entwicklungen aus dem Krieg und das einzige Schiff, auf dem ich mit diesen Geräten in Berührung kam und das diese besaß, war meines Wissens die "Koningin Emma", die im Fährdienst Hoek van Holland-Harwich lief und die tatsächlich auf den Meter genau navigieren musste. Auf dieses Schiff Nr. 1 komme ich gleich anschließend im zweiten Teil zurück.

Unsere Klassen waren in zwei Gruppen aufgeteilt: Die eine Hälfte hatte vormittags Schiffsbesuch, die andere nachmittags. Die jeweils andere Hälfte hatte Studium. Nun mussten wir aber auf dem

kürzesten Weg in den Hafen durchs Rotlichtviertel von Amsterdam, deren Protagonisten ja, wie international bekannt ist, nicht gerade zimperlich sind, mehr als anderswo. Und so kam es, dass wir uns für den Marsch zum Schiff etwas länger Zeit nahmen und die Damen hinter den Fenstern fachgemäß begutachteten. Unsere wohlgemeinten Kommentare waren aber alles andere als erwünscht und es kam so weit, dass die Damen auf die Straße stürzten und lauthals "JANÜÜÜÜS" nach ihren Beschützern riefen. Solange warteten wir natürlich nicht und in Windeseile hatten wir uns in alle Richtungen verstreut, was natürlich dem rechtzeitigen Eintreffen an Bord nicht mehr zuträglich war.

Einen Aspekt hatten wir dabei gänzlich übersehen, nämlich, dass unsere Nachmittags-Kollegen völlig unbedarft durch das Viertel tigerten, ebenfalls die Damen kommentierten, worauf die Beschützer, die anscheinend alle Janüs hießen, nur darauf gewartet haben. Die armen Kollegen, die keinerlei Vorkenntnisse hatten, liefen praktisch ins offene Messer und bekamen die Dresche ab, die eigentlich für uns bestimmt war.

Für die nächsten Schiffsbesuche mussten wir dann notgedrungen einen weiten Umweg durch die Stadt machen oder mit der Trambahn fahren. Hierzu passt gut der Spruch von der Grube. -

Alles in allem waren die drei Monate im Nu vorbei. Voller Erlebnisse, jeden Tag andere, dennAmsterdam ist eine pulsierende Stadt. Nebenher studierten wir dann auch noch.

Und dann kam der große Moment, an dem wir Jungfuzzies alten, erfahrenen Füchsen auf Passagierschiffen anvertraut wurden, die uns vor unserer Selbstständigkeit zur nötigen Praxis verhelfen und zu echten Seebären erziehen sollten. Dabei konnte man Glück, aber auch Pech haben. Ich hatte sowohl als auch.- Mittlerweile war ich 23.

Zum besseren Verständnis möchte ich noch darauf hinweisen, dass dieses Buch sprachlich so abgefasst ist, dass auch Landratten mit meinem ursprünglichen Seemannsgarn zurechtkommen. Die Seemannssprache ist als Fachsprache völlig autark und so unterschiedlich von der gängigen Umgangssprache an Land, dass meine Mutter manches Mal fassungslos dastand und nur „Bahnhof" verstand. Die Seemannssprache ist nicht nur gespickt mit pidgeon-english, chinesisch und malaiisch (um sich der entsprechenden Besatzung gegenüber verständlich machen zu können, und schließlich geht sie einem selbst in Fleisch und Blut über), sondern enthält auch Wortwendungen, deren Bedeutung in der Männergemeinschaft nur unter Männern erfasst werden kann. Die vorliegenden Erzählungen wurden also im Laufe der vergangenen Jahre geglättet und – wo noch angebracht -ins normale Umgangssprachliche „übersetzt", sprich: zivilisiert. Trotzdem scheinen, den spärlichen Nachfragen zufolge, immer noch hier und da kleine sprachliche „Teufelchen" drin zu stecken. Also, wenn kein Duden mehr weiter hilft, vielleicht kann ich dann bei einer persönlichen Erläuterung noch behilflich sein.

Mit einem weiteren Mißverständnis möchte ich gleich zu Anfang aufräumen: In jedem Hafen wird nicht geschlafen. Höchstens auf dem Schiff selbst. Das entsprechende Lied weckt völlig falsche Vorstellungen. Fremdgehen gab und gibt es nicht und habe ich mit einer einzigen Ausnahme auch nie erlebt. Derjenige, ein Matrose, ist damals in Mombasa desertiert und nie wieder aufgetaucht. Wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist.-Man bleibt an Bord, erfüllt seinen täglichen Dienstplan und auch kein Unbefugter betritt je ein Schiff. Das hätte für Jeden an Bord gravierende Konsequenzen bis hin zur fristlosen Kündigung. Das Gerede darüber ist peinlich und wertet den Seemannsberuf ab. Wir hatten einen anspruchsvollen und verantwortungsvollen Beruf wie jeder andere. Das gilt sowohl für den kleinsten und gemeinsten Mann bis hinauf zum Kapitän.

Ende 1. Teil

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