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"Ernesto, der Seebär – Vom Tretauto zum Schlachtschiff" Erinnerungen des 90-jährigen Dießener Ernesto Rudolf Hofmann. Auf der Insel Java geboren, landet er auf seine alten Tage am Ammersee. Der Fortsetzungsroman eines bewegten Lebens, Teil 2: Folge 24

Schiff Nr. 1 vom Seebär, die "Koningin Emma" Foto: Ernesto Rudolf Hofmann

Folge 24

Meine erste Seereise begann mit einem donnernden, peinlichen, selbst inszenierten Eklat, von dem ich heute noch nicht weiß, ob ich ihn bereuen soll oder nicht. Zugegebenermaßen fehlte mir ein gerüttelt Maß an Diplomatie (das ich auch heute noch nicht ansatzweise besitze). Aber wollen wir der Sache nicht vorgreifen.

Mein erstes Schiff, die „Koningin Emma", benannt nach der Königin-Mutter, gehörte zwar nicht mir, sondern der „Stoomvaart Maatschappij Zeeland". Ein schwieriger und völlig irreführender Name, der so viel sagen will wie: Dampfschifffahrtsgesellschaft Seeland. Erstens gibt es , wie bei fast allen Reedereien, keine Dampfschiffe mehr (außer vielleicht noch dampfgetriebene Turbinenschiffe), aber der Name ist halt seit Anbeginn eingebürgert und jeder kennt ihn. Zweitens wurde der Heimathafen von Vlissingen nach Hoek van Holland vor den Toren Rotterdams verlegt.

Die „KE", wie sie in Fachkreisen liebevoll genannt wurde, vermaß 4353 Bruttoregistertonnen und war mit ihrer fast 24 Knoten –gute 44 km/h – gemessenen Probefahrtgeschwindigkeit eines der schnellsten Fährschiffe auf der Nordsee. Ihr internationales Rufzeichen war PFKT.

Schmerzlich vermissten wir Stabilisatoren oder Schlingertanks, denn die Dünung kam auf der Überfahrt meist von querab und da waren starke Mägen von Passagieren und Besatzung fast schon Voraussetzung, aber nicht jeder hatte sie.

Mir taten nur die armen Passagiere leid, die vom Oberdeck, natürlich an Luv, der dem Wind zugewandten Seite natürlich, glaubten ihr Innerstes den Fischen anvertrauen zu müssen. Ich war auch nicht schlauer, sonst wäre ich nicht ausgerechnet ebenfalls an Luv nach hinten zum Mittagessen gegangen. Oh, wie schnell merkt man, dass man etwas falsch gemacht hat, wenn man von oben bis unten bekleckert am Zielort, der Mess (Offiziersrestaurant) ankommt, was aber, wenn einem der Hunger treibt, dem keinen Abbruch tat. Das richtige Verhalten hat man notgedrungen schnell gelernt. Learning by doing.

Ich hatte einen tollen Chef, mit dem ich mich blendend verstand. Er war nicht so verdruckt, wie sein Nachfolger auf der „Jagersfontein", der dachte, mir meine Karriere vermasseln zu müssen. Er war ehrlich, geradeaus, immer freundlich und vor allem ein guter Lehrmeister. Von ihm lernte ich allerlei Praktisches für`s Leben, zum Beispiel, wie man aus Mattglanzfotos makellose Hochglanzfotos zauberte. Man lege die matten Fotos in lauwarmes Wasser und klebe sie dann bildseitig auf einen Spiegel über dem Waschbecken. Dabei das Wasser herausstreichen und wenn das Papier trocken war, vorsichtig abziehen und fertig ist das Glanzfoto.

Ach ja, noch etwas habe ich gelernt: meinen Beruf. Er saß nur einmal bei der Hin- und Rückfahrt neben mir. Bei der zweiten Ausreise meldete er Scheveningen Radio sein „QTO HK(Funkcode für: Ich habe den Hafen Hoek van Holland verlassen) bnd (bound for) Harwich". Dann verdünnisierte er sich unter einem Vorwand und ward nicht mehr gesehen, mich verzweifelt alleine zurücklassend. Plötzlich meldete sich Harwich-Radio und begehrte von mir die Ladungs- und Passagierliste. Oh, Gott, wo war die? Irgendwo hatte ich sie gesehen, aber wo, und was sollte ich jetzt tun??

In allerhöchster nervlicher Alarmbereitschaft schmiss ich den Sender an und fragte, was er denn von mir wollte. „Please send me your cargo list", war die höfliche Frage des englischen Kollegen. Die hatte ich inzwischen unter einem Wust von Papieren ausgegraben und ich erinnerte mich daran, was mein Chef gestern gemacht hat. Also funkte ich ihm, wie viele Passagiere wir an Bord hatten, wie viele Autos und wie viele Tonnen silver onions. Die Engländer scheinen ganz wild gewesen zu sein auf unsere eingelegten Silberzwiebeln. Dann meldete ich mich brav bei Scheveningen Radio mit „QTP Harwich" (wir laufen in den Hafen von Harwich ein) ab, sodass er jetzt wusste, dass ab dem Moment bei mir nichts mehr zu holen war und da kam doch gerade zufällig mein Chef zur Tür herein...

… und sprach mir sein höchstes Lob aus. Durchgeschwitzt bis aufs Hemd fragte ich ihn, woher er das wisse? Er sagte, ich habe unten in der Mess auch einen Empfänger stehen und ich habe alles mitgehört. So etwas nennt man: Ins kalte Wasser schmeißen. Das passierte mir noch einmal bei MAN (darüber im Teil 3 mehr), aber da war ich mit diesen Wassern schon gewaschen. Meine Feuertaufe hatte ich mit diesem Späßchen also bestanden und ab jetzt konnte es nur noch bergauf gehen. Das Lampenfieber war vorbei und fortan ließ ich ihn in der Mess bei seinem Bierchen sitzen mit der Angabe, ich brauche ihn nicht mehr.

Er war aber so lieb, trotzdem ab und zu mal hereinzuschauen, denn unten war es ihm doch zu langweilig und so konnte ich auch mal einen Blick auf die Brücke einer schnellfahrenden Kanalfähre werfen, als ich gerade den Kapitän antraf, der fluchend wie ein Berserker auf der Brücke herum sprang.

Was war geschehen? Ein norwegischer Tanker hatte ihm die Vorfahrt genommen und er musste deswegen einen Kreis fahren, um nicht mit ihm zu kollidieren. Der Norweger verfolgte, wie alle Wikinger vor ihm, stur seinen Kurs.

Man muss wissen, dass einen Kreis fahren zu müssen, die höchste Schande für einen Kapitän bedeutet (manchmal legt der Kontrahent es aber auchdurch ein geschicktes Manöver darauf an und genießt dabei seine Schadenfreude). Und wenn das einer Kanalfähre geschieht, dann fühlt sich der Alte doppelt blamiert. Kanalfähren haben zu jeder Tages- und Nachtzeit Vorrang vor allen anderen Schiffen, denn darauf sind die Fahrpläne der europäischen Bahnen bis auf die Minute abgestimmt. Jedenfalls habe ich weder vorher noch nachher einen Menschen erlebt, der ein solch umfangreiches Register an Unflätigkeiten besaß wie er. Da konnte man noch was dazu lernen.

Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, bekam ich dann auch Einsicht in die Navigationshilfen Loran und Decca, die ich an anderer Stelle bereits erwähnt habe.

Wenn man schon mal in England ist, will man auch etwas von Land und Leuten sehen. Beides ist mir nachweislich gut gelungen.

So bestieg ich hoffnungsvoll einen Zug von Harwich nach Colchester und, wie man das bei Zügen so macht, will man unterwegs auch mal aussteigen. Nur, wo war der verdammte Türöffner? Innen gab es keinen. Niemand hatte mir gesagt, dass man, um auszusteigen, erst das Fenster herunterlassen, sich mühsam hinausbeugen und dann von außen die Türklinke herunterdrücken musste. So schrie ich Himmel und Hölle zusammen, als der Zug wieder abfahren wollte. - Für die Rückfahrt war ich jedenfalls mit ganz neuen Erkenntnissen ausgestattet...

Eines Abends erhielt ich an Bord eine Einladung zu einem, wie sich später herausstellen sollte, Pfadfinderabend. Mein Gastgeber stellte sich als pensionierter Major der RAF heraus und wir kamen ganz zwanglos ins Gespräch über die Pfadfinderei im allgemeinen und meine Erfahrungen mit diesen Leuten in Holland nach meiner Jugendzeit in Deutschland im besonderen.

So erfuhr ich von ihm, dass er als RAF-Pilot Einsätze über Deutschland geflogen hätte, insbesondere zum Schluss über Dresden. Ich erzählte ihm, wie schrecklich die Bevölkerung unter dem Phosphor gelitten hatte, wenn sie aus dem Wasser der Elbe auftauchten und es wieder zu brennen begann. Ihre verbrannten Angehörigen brachten die Überlebenden in einem kleinen Köfferchen heim. Im Verlauf meines Lebens haben mir das mehrere Dresden-Überlebende erzählt und noch einiges mehr.

Ich nannte ihn nach seinem Dresden-Bericht einen Mörder.

Es hätte mich gewundert, wenn er mich nicht hochkant `rausgeschmissen hätte. So stand ich dann in stockdunkler Nacht in einem fremden Kaff auf der Straße und musste mein Schiff suchen. Trotzdem konnte ich meine Genugtuung nicht unterdrücken. Ich wusste wohl, dass Kriegsverbrechen auf beiden Seiten geschahen, aber über die Folgen dieses Verbrechens, an dem er persönlich beteiligt war, wusste er jetzt wenigstens Bescheid und hatte was zum Nachdenken. Dass ich damit das Gastrecht eklatant verletzt hatte, war mir völlig klar, aber nicht vorhersehbar. Ich war es den Opfern einfach schuldig, als sich die passende Gelegenheit dazu bot. Aus meinem Herzen habe ich noch nie eine Mördergrube gemacht und werde es ich auch nie. - Wie hätten Sie in meiner Stelle reagiert? Ehrlich?

Fortsetzung folgt

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