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7 Minuten Lesezeit (1302 Worte)

"Ernesto, der Seebär – Vom Tretauto zum Schlachtschiff" Erinnerungen des 90-jährigen Dießener Ernesto Rudolf Hofmann. Auf der Insel Java geboren, landet er auf seine alten Tage am Ammersee. Der Fortsetzungsroman eines bewegten Lebens, Teil 2: Folge 29

Die ausgebrannte und wieder aufgerichtete „Empress of Canada“ Foto: Ernesto Rudolf Hofmann

Folge 29

Zurück zum Schiff:

In jedem Hafen der Welt besteht für jedes Schiff Lotsenpflicht. So auch für uns in Liverpool. Der Lotse hatte eine Kippa auf, was unseren Steuermann veranlasste, seinem Glaubensbruder gleich den neuesten Witz aus Holland über Sammy und Mosi zu erzählen, wie sie unter Anhängern mosaischen Glaubens dort an der Tagesordnung sind. Das hatte sich bis dahin in GB noch nicht herumgesprochen und diese Witze sind in GB anscheinend auch unbekannt. Vernichtender Kommentar des Lotsen zu seinem Glaubensbruder (er wusste nicht, dass er auch einer von ihnen war…): Don't insult my people! Ach, war der Arme geknickt. Er hat's doch bloß gut gemeint. Zu einer Erklärung war er nicht mehr fähig.

In Heysham lagen auch die weißen Passagierschiffe für den Fährdienst nach Irland. Auch diese weißen Schwäne bekamen unser Lebenselixir aus tiefschwarzem, zähflüssigen Bunkeröl. Der krasse Kontrast zwischen beiden Farben trat eines Tages ganz deutlich ans Licht, als unser chinesischer Pumpieman irrtümlich den falschen Hahn aufdrehte und das Schweröl, statt in die Tanks an Land, auf der anderen Seite in den Hafen pumpte. Kein Mensch merkte es zunächst. Es war schlichtweg eine Katastrophe. Das gesamte Hafenbecken war mit dieser schwarzen Schmiere bedeckt, von den schönen weißen Schiffen ganz zu schweigen. Der Schaden war so immens, dass wir die Dimensionen gar nicht mehr ermessen konnten. Die Schadenersatzverhandlungen lagen dann schon auf einem etwas gehobenerem Niveau auf dem Tisch von Shell in London.

Die Briten haben einen guten Spruch: „Join the Navy and see the World". Daran musste ich denken, als wir eines wunderschönen Sommertages Order bekamen, mal ein bisschen Treibstoff in Manchester vorbei zu bringen. Jetzt werden Sie sich vielleicht, wie wir, fragen: Wie kann das sein? Manchester liegt doch weit im Binnenland? Stimmt! 58 Kilometer. Weitblickende Industrie- magnaten haben im Bau eines Schifffahrtskanals die Möglichkeit gesehen, die konkurrierende Industriestadt Liverpoolvor den Toren der eigenen Stadt abzuhängen. Aber, wie das halt damals auch schon so war, kurz nach dem ersten Spatenstich war das Geld alle. Neue Kredite stellten sicher, dass der Kanal 1894 eröffnet werden konnte.

Der Kanal beginnt bei Ellesmere Port am Südufer der Mersey gegenüber von Liverpool und ist sogar für größere Schiffe befahrbar, auch wenn es manchmal verdammt eng erscheint. Außerdem ist Köpfchen gefragt. Und daran hapert es bei so manchen Menschen. Es gilt die weltweite Seestraßenverkehrsordnung, wonach die Schiffe, wie bei unserem kontinentalen Autoverkehr, rechts fahren (sollten!). Diese Regeln gelten auch für Großbritannien. Ein Entgegenkommer hatte aber anderes im Sinn und zwang uns, obwohl wir einen örtlichen Kanallotsen an Bord hatten, zu einem rasanten Kurswechsel, da er als Geisterfahrer auf der falschen Seite geradewegs auf uns zukam. Die andere Kanalseite war unsere Rettung. Was unser Lotse dem Kollegen drüben alles gesagt hat, konnte keiner nacherzählen, aber es klang ziemlich laut.

Ansonsten aber war diese Kanalfahrt ein einmaliges Erlebnis, wofür andere Leute viel Geld ausgeben würden. In Liverpool besuchten der Kapitän, der erste Steuermann und ich eines Abends ein Kino. Nicht, dass wir aus Unkenntnis beim Abspielen des „God save the Queen" sitzenblieben und durch andere Kinobesucher in die Höhe gezerrt wurden, schlimmer waren plötzlich die Untertitel während der laufenden Vorstellung: „Master Lucita, please return to your ship immediately". Wir nahmen das erst gar nicht wahr, erst das Blinken des Textes drang langsam in unser Hirn. Wir rumpelten hoch und eilten zu unserem Schiff, wo wir die Nachricht erhielten, dass unser zweiter Steuermann einem Herzschlag erlegen war. Unser letzter Liebesdienst an ihn war, zu entscheiden, was eingepackt werden sollte und was besser nicht, denn jeder Mensch hat sein Geheimnis. Eine Lehre für`s spätere Leben...

Unser Aufenthalt in Liverpool gab mir Gelegenheit, das im Januar zuvor an der Pier im Gladstone Dock ausgebrannte Passagierschiff „Empress of Canada" von der Canadian Pacific zu besuchen. Sie war nach dem Kentern wieder aufgerichtet worden. Für mich war der Besuch ein Glücksfall, denn einige Tage später sollte sie ihre letzte Reise zur Abwrackwerft in Italien antreten. Als Souvenir besitze ich noch eine geschwärzte und verbrannte silberne Gabel. Einmalige Fotos konnte ich in einer nautischen Fachzeitschrift unterbringen.

Irgendwann kam die Order aus der Hauptverwaltung der Shell in Rotterdam, in Ballast Die ausgebrannte und wieder aufgerichtete „Empress of Canada" nach Rotterdam zurückzukehren, da unsere brave „Lucita" abgewrackt werden sollte. Diese Aufgabe übernahm vorab unfreiwillig um ein Haar unser neuer dritter Steuermann, für den, gerade frisch von der Seefahrtschule, alle anderen, mit wohlweislicher Ausnahme des Kapitäns, Klugscheißer waren.

Wir sollten von Liverpool aus, also von Norden her, an den Scillys vorbei in den Englischen Kanal einbiegen, als ich mich zu einem Plausch bei ihm auf der Brücke befand. Wir durchquerten gerade den Kanal von Bristol und ich befand mich schon längst nicht mehr auf Wache. Aus Langeweile nahm ich ein paar Funkpeilungen. Die kritische Zeit des Sonnenuntergangs war vorbei und die Peilungen deshalb wieder zuverlässig. Der Kurs war auf der Seekarte abgesteckt, aber zu meiner Verwunderung wanderte das Schiff immer weiter in den Kanal von Bristol hinein, was ich der Strömung zuschrieb. Sie kennen ja alle die Umrisse von Großbritannien, insbesondere die „Hasenpfote" von Cornwall an der Nordseite, auf die wir jetzt schnurstracks zusteuerten.

Die Sicht war schlecht, aber nicht gerade neblig, ich schätze mal, so gute drei Meilen, etwa fünf Kilometer. Die Funkpeilungen steckte ich, deutlich sichtbar für den Dritten, in der Seekarte ab. Er aber meinte, ich solle mein Schulgeld zurückholen und überzog mich mit Schmähungen. Während ich noch in der Kartenraum war, hörte ich plötzlich einen Schrei an den Rudergänger: „Hart Steuerbord". Was war geschehen? Direkt vor uns tauchte ein Leuchtfeuer auf und wir wären mit voller Fahrt um Haaresbreite auf die Nordküste von Cornwall aufgelaufen, um Rosamunde Pilcher Grüssgott zu sagen. Wir schrammten nur haarscharf an den Felsen vorbei. Ich brauchte nichts zu sagen. Unsere gegenseitigen Blicke sprachen Bände. Als er wieder auf richtigem Kurs lag, radierte ich meine Funkpeilungen aus der Seekarte heraus und der weiteren Karriere dieses Besserwissers zum zukünftigen Kapitän stand nichts mehr im Wege. Das war ihm hoffentlich eine Lehre! - Seitdem sehe ich gern Rosamunde Pilcher. Vielleicht gerade deswegen, weil uns da etwas entgangen zu sein scheint...

Die Rückreise unserer „Lucita" nach Rotterdam fand hiermit en gutes Ende. Ich sagte dem Schiff Lebwohl.Wir hatten das Schiff in Gedanken schon, wie eingangs geschildert, in seine Einzelteile zerlegt, was jeder von uns so als Souvenir mit nachhause nehmen wollte. Ich sollte die Schiffsglocke mit dem eingravierten Schiffsnamen „Lucita -1926" bekommen und es war gut, dass es nicht geklappt hat. Man soll dem Schicksal nie nachtrauern. Es ist immer für irgendetwas gut. Denn:

Wir waren abends spät in der Raffinerie Pernis bei Rotterdam, als ich im Dunkeln mit meinem Gepäck zum Eingangstor tigerte. Der Pförtner war unfreundlich und verweigerte mir seine Hilfe, ein Taxi herbeizurufen. Da näherte sich der Ausfahrt ein großer Ami-Schlitten und ich erkannte meine Chance, mitgenommen zu werden. Ich stürzte auf das Auto zu, der Pförtner laut schreiend hinter mir her, und ich bat den Chauffeur, mich doch bitte mitzunehmen. Aus dem Fond ertönte eine Stimme: „Ja, steigen Sie nur ein". Ich folgte nur zu gern seiner Einladung und kam mit dem Herrn neben mir in ein angeregtes Gespräch. Er brachte mich zum Bahnhof und wir verabschiedeten uns sehr herzlich.Ich hatte keine Ahnung, wer mich da mitgenommen hatte. Irgendwie kam er mir aber bekannt vor und kurze Zeit später fiel mir eine Zeitschrift mit seinem Konterfei in die Hände. Mein Gönner war der Managing Director der Königlichen Shell Group Larive, also einer der Topdirektoren eines Weltkonzerns.Da wurde mir dann auch klar, weshalb der Pförtner so hysterisch reagierte... Was hätte ich da übrigens mit der großen Glocke unterm Arm eines „seiner" Schiffe angefangen?? Man sieht, man soll nie gegen sein Schicksal ankämpfen.

An Urlaub war nicht zu denken, denn schon einen Tag später fand ich mich auf dem nächsten Schiff, der „Jupiter", die mich zu einer unvergesslichen Reise auf die Pazifikseite Südamerikas entführen sollte.

Fortsetzung folgt

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