Fortsetzung vom 10.5.2021
Eines Tages, ich war sechs oder sieben, wurde ich zum Einkaufen geschickt. Während ich vor dem Haus Ismaningerstrasse 156, der End- und Beginnhaltestelle, auf die Trambahn wartete, öffnete meine Mutter das Wohnzimmerfenster – ich kann mich immer noch daran erinnern, auch wenn ich heute noch jedesmal daran vorbeifahre – und rief herunter „Kamel". Ich war zutiefst beleidigt, denn ich wusste nicht, woran ich den Vergleich mit einem Wüstenschiff zu verdanken hatte. Das Rätsel löste sich, als sie mich nach meiner Heimkehr fragte: „Und hast du mein Camelia vergessen?" Diesen Produktnamen konnte sie natürlich nicht so lauthals auf die Straße brüllen. Sie dachte, ich würde es schon kapieren. Aber, wie kann man etwas vergessen, wenn man nicht einmal weiß, was „Camelia" überhaupt ist?? Heute weiß ich es.
Die Mutti wollte einmal telefonieren. Wir hatten eine wunderbare Telefonnummer: 480 490. Sie nahm den Hörer ab und platzte in ein Gespräch. Männerstimme: „Vor ein paar Tagen war da ein altes Mütterlein bei mir um zu betteln, ihren Sohn doch bitte nicht an die Front zu schicken". Frauenstimme: „Ja, und dann?". Männerstimme: „Ich habe ihn gleich auf einen Transport an die Ostfront geschickt!". Die Mutti sagte: „Sie sind ein Schwein!". Totenstille. Dann er: „Hast Du das gehört?". Sie: „Und mit Recht!". Die Mutti sagte: „Danke" und legte auf. Sie bebte vor Wut, als sie mir das Gespräch erzählte, denn ich stand daneben. Die Beiden haben nie erfahren, wer die Mithörerin war...
Es war, wie gesagt, Krieg. Und die Gestapo war hinter den Juden her. Nun wohnte bei uns im ersten Stock rechts ein jüdisches Ehepaar. Herr Neumann war ein würdiger alter Herr mit weißem Vollbart und seine Frau eine zerbrechliche, engelsgleiche alte Dame, beide mit schlohweißem Haar. Glücklicherweise hat der vorzeitige Tod ihm ein schreckliches Schicksal erspart. Übrig blieben seine Frau und ihre bildschöne zarte Tochter. Sie wurde unfassbarerweise eines Tages als erste abgeholt, die Mutter musste die Wohnung räumen. Und wohin jetzt? Die Mutti erfuhr von dieser Tragik und nahm Frau Neumann bei uns auf.
Nach einigen Tagen bekam die Polizei Wind von der Sache und holte Frau Neumann unter grässlichsten Drohungen („Dachau") und Verwünschungen an die Adresse unserer Mutter bei ihr ab. Da konnte sogar unser Polizeihausfreund nichts mehr tun. Der half den beiden blonden Holländerinnen sowieso schon, wo er konnte. Er kam so oft er konnte, mit Butter oder Speck oder was auch immer (wo er das bloß herhatte?).
Dem Haus mit der Nummer 156 ist die Tragik von damals nicht mehr anzusehen, die hinter seinen Mauern herrschte. Die Tragik, als die Tochter der Familie abgeholt wurde und die Tragik, als die Gestapo-Leute bei meiner Mutter läuteten, um die hochbetagte Mutter abzuholen. Ein „Stolperstein" oder irgend ein Hinweis darauf fehlt dort bis heute und man geht ahnungslos vorbei.
Es war vom menschlichen her eine bessere Zeit als heute, in der jeder nur noch an sich selber denkt und das Materielle voran steht. Man hielt zu einander und jeder half jedem nach besten Können und Vermögen. Die Mutti stand auf jedem Fall auf der Schwarzen Liste bei der Gestapo, um bei nächster Gelegenheit nach Dachau abgeholt zu werden (wie später unmittelbar nach dem Krieg aus entsprechenden Unterlagen hervorging). Durch ihre Tat steht sie in Yad Vashem als eine der "Gerechten" registriert. Dabei war es doch nur selbstverständliche Menschlichkeit einem Mitmenschen gegenüber, was sie tat. - Ich sehe die drei armen Menschen noch vor mir, als wäre es gestern.
Der Schweizer Schutzbrief, den ihr ein Freund aus Zürich, der bekannte Schweizer Sänger Hans Gut, an die Wohnungstür genagelt hat, zeigte hier keine Wirkung mehr. Normalerweise hatte die Gestapo dann doch noch etwas Respekt vor Schweizer Schutzbriefen. Hier hat er versagt. Frau Neumann stand im Grunde genommen unter dem Schutz der Eidgenossenschaft. Warum er in diesem Fall versagt hat, ich grüble und kann es nicht nachvollziehen. - Hans Gut war lange mit unserer Mutter befreundet. Eines Tages lasen wir in Holland, es wird so um 1950 gewesen sein, dass ein vollbesetzter Reisebus im Vierwaldstätter See verunglückt war. Lediglich der Reiseleiter konnte gerettet werden. Es war unser Hans Gut!
Wie gesagt, es war immer noch Krieg. War der Fliegeralarm erst nach 24 Uhr zu Ende, dann fiel am nächsten Tag die Schule aus.
Nach dem Schrecken einer jeden Bombennacht, die uns nicht so hart traf wie zum Beispiel Hamburg oder Dresden, machten wir aus der Not eine Tugend und erkundeten mit dem Rad die Umgebung, wo es „eingeschlagen" hatte. Und wir sammelten Granatsplitter. die auf der Straße herumlagen. Die Tauschbörse begann. Weit brauchten wir einmal nicht zu suchen. Eine Sprengbombe schlug keine drei Meter entfernt von mir ein. Dass ich hier noch sitze, habe ich einer zwei Meter dicken, mit Eisenstäben bewehrten Betonwand zwischen Keller und Garten zu verdanken.
Tatsächlich "eingeschlagen" hat es dann aber buchstäblich bei uns. Hierzu folgende Geschichte:
Eines Nachts, es war während einer dieser schrecklichen Bombennächte, beehrte unseren Luftschutzkeller ein leibhaftiger General, mit dicken roten Streifen an seiner Hose, mit seinem Besuch. Wer nun erwartet hatte, er würde uns von seinen Heldentaten berichten, lag dick daneben, denn er kam wütend aus dem Nachbar-Luftschutzkeller zu uns herein gestapft und gab lauthals zu erkennen: "Wenn Ihr ersauft, dann brauchen wir nicht auch zu ersaufen". Es liefen nämlich mehrere Wasserleitungen unter der Kellerdecke entlang. Sprach's und verriegelte die Verbindungstür zu seinem Luftschutzkeller (Ismaningerstraße 154). Wir saßen da wie vom Donner gerührt und es herrschte entsetztes Stillschweigen. – Heute alles noch im Original vorhanden…
Jetzt kommt der Hammer: Während wir noch keine Stunde aus dem Luftschutzkeller oben in unserer Wohnung (156) waren, kam die Polizei mit einem sofortigen Räumungsbefehl, da im Nachbarhaus (154, dem Lebensmittelpunkt des Generals) ein Zeitzünder lag. Das wusste man daher, weil auf der Bombe, die nach dem Durchschlagen aller darüber liegenden Decken ausgerechnet im Wohnzimmer des Kriegsherrn lag, in schriftreinem Deutsch zu lesen war: "Für den Oberfeuerwerker". Das gute Stück hatte einen neuartigen Zünder, der selbst dem anwesenden Kampfmittelspezialisten einige Kragenweiten zu groß war. Da er nicht zu entschärfen war, wusste kein Mensch, auch der Herr General nicht, wann das Ding beabsichtigte, hochzugehen. So blieb also den Häusern 152, 154, 156, 158 und dem darüber liegenden Flakstand nur die schnellstmögliche Räumung. Die Liselotte war in Wien und so kamen unsere Mutter und ich unter bei ihrer Freundin Elga Woltz in der Kolbergerstraße 21, direkt unterhalb des Abhangs vom Herkomerplatz. Die Luftmine fristete damals noch in England ihr friedliches Dasein.
Nun war es Abwarten bis zum Big Bang geblasen. Damit keiner in die Versuchung kommen sollte, doch noch schnell etwas von zuhause zu holen, postierte man vor unserem Hauseingang (156) einen Wachposten sehr älteren Jahrgangs, dessen Aufgabe darin bestand, sich drei Tage lang fürchterlich zu langweilen. Trotzdem sollte er innerhalb von 24 Stunden zweimal auf dem Hosenboden landen. Ihm hatte man zur Stützung seines Selbstbewusstseins ein Gewehr aus dem Deutschen Museum in die Hand gedrückt.
Mir kommt gerade folgender Gedanke: Es war doch soeben von einem General die Rede? So viele
Generäle wohnten damals nicht am Herkomerplatz. War es vielleicht gar derselbe...? (Seite 14).
Unsere Mutter hatte kurz zuvor Marmelade eingemacht. Diese Köstlichkeiten (und das im Krieg!) standen fein säuberlich aufgereiht in der Speisekammer auf dem Balkon. Elga Woltz fand es jammerschade, wenn nun all diese Herrlichkeiten so einfach in einem Schutthaufen versinken würden. All die Mühe umsonst! Und so beschloss das Duo, am zweiten Tag des Dahinschnarchens der Zeitbombe ("die kann ja noch länger so daliegen!"), die Marmelade zu retten. Bewaffnet mit mehreren Taschen stiegen die Beiden den Zickzackweg zum Herkomerplatz hinauf, am Klohäusl vorbei, das noch stand und gelangten über die Garteneinfahrt von der Rückseite her in den Luftschutzkeller, dann hinauf in den zweiten Stock und packten die Marmelade ein.
Der Rückweg sollte sich der schweren Taschen wegen etwas beschwerlicher gestalten, weshalb man sich zum direkten Weg durch die Haustür entschloss. Dort stand der brave Wachtposten und erlebte den Schreck seines Lebens, als hinter ihm die Tür aufging und zwei Frauen, schwer beladen, herauskamen. Das war dann seine erste Landung auf Hosenboden. Die zweite sollte bald folgen. Die beiden Damen nutzten seine Verblüffung und rasten so gut es ging quer über den Herkomerplatz in Richtung rettenden Fußweg Kolbergerstraße.
Noch in derselben Nacht ging die Bombe hoch. Glücklicherweise ist dem Wachtposten bei der zweiten unfreiwilligen Landung nichts passiert. Dem Haus 154 desto mehr. Bei anbrechendem Tageslicht bot sich der staunenden Menge ein unglaubliches Bild: Wie mit einem Rasiermesser herausgeschnitten: 154 existierte nicht mehr.
Man stelle sich ein umgedrehtes "M" vor. Die beiden kurzen Balken bildeten den Trümmerhaufen, die beiden senkrechten die Hauswände von 152 links und 156 rechts. Dazu muss gesagt werden, dass auch die Trennwand von 156 zu 154 nicht mehr dran war. Unsere Nachbarn rechts blickten auf den Trümmerberg und bei uns (links) war nicht eine Scheibe zu Bruch gegangen, nicht mal die Scheiben unserer Vitrinen. Solche merkwürdigen Phänomene gab es mehrere. Die Marmelade war auch ganz geblieben, nur musste sie jetzt mühsam, wenn auch hälftig geteilt den Rückweg antreten.
Fortsetzung folgt
When you subscribe to the blog, we will send you an e-mail when there are new updates on the site so you wouldn't miss them.
By accepting you will be accessing a service provided by a third-party external to https://aloys.news/
Kommentare