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"Ernesto, der Seebär – Vom Tretauto zum Schlachtschiff" Fortsetzungsroman eines bewegten Lebens, Teil 2: Folge 49

Die alte byzantinische Kirche Hagia Sofia in Istanbul war lange Zeit Museum und ist heute wieder eine Moschee. Foto: Ernst Rudolf Hofmann

Folge 49

Es war das schönste Weihnachtsfest, das wir uns noch nicht einmal in unseren kühnsten Träumen hätten vorstellen können. Die chinesische Besatzung, die natürlich alles mitbekommen hatte, was da lief, ließ nichts unversucht, es uns schön zu machen und das ist ihnen auch voll und ganz gelungen. Es kam ein riesiger Truthahn auf den Tisch, nach allen Regeln der Kunst geschmückt und verarbeitet. Dann kam der Höhepunkt: Cookie, der Koch, knipste die Lichter des einstmaligen Vogels an. Aus den Augen blinkte es: grün für Steuerbord und rot für Backbord, also nach allen Regeln der Seefahrtkunst. Aber uns war schlagartig der Appetit vergangen, sehr zum Bedauern von Cookie, dem Koch. Aber wir hielten uns anderweitig an den sonstigen Köstlichkeiten schadlos und schliefen ein wie Babys im Urlaub.

Ein einziger Watchieman hielt Wache und der nächste Tag weckte uns, als die Sonne schon hoch am Venezolanischen Himmel stand. Der zweite Tag verlief ebenso wie der dritte, nämlich schlafend, essend (ohne Vogel) und sonnenbadend. Keiner konnte uns etwas anhaben, weder die Venezolaner noch die Holländer, lagen wir doch friedlich über einer untiefen Sandbank in internationalen Gewässern.

Am dritten Nachmittag erschienen wir wieder vor der Pier und der SI war der ehrlichen Meinung, er hätte uns eins ausgewischt. Seine Wut stieg, als er hörte, was für ein schönes Weihnachtsfest er uns besorgt hatte. Ein Norweger war natürlich keiner da. Die Shell hat das alles eine Stange Geld gekostet! Aber ein Amerikaner. Wir lagen Bordwand an Bordwand und ich stattete meinem Kollegen einen Höflichkeitsbesuch ab, wie das unter Kollegen halt so üblich war. Sein Sender war defekt, den Fehler hatte er mittlerweile gefunden und er warf das umfangreiche Teil (so circa 50x30x30 cm) einfach über Bord und baute das Neue ein. Schon damals wurde ich mit der amerikanischen Wegwerfgesellschaft konfrontiert , bevor sie zu uns herüberschwappte und ich war entsetzt. „Die Reparatur kostet mehr als dieser ganze Kasten", sagte er. Dabei hatte er den ganzen Tag nichts zu tun.

Unser Kerosin lieferten wir tröpfchenweise nach alter Manier im Mittelmeer ab. In Oran und Algiers schneite es, die armen Kamele stapften durch den Schnee und die Palmen bogen sich unter der Schneelast. Von einem Spaziergang durch Algiers wieder an Bord, hörte ich von einem Massaker in der Stadt, dem 43 französische Soldaten zum Opfer gefallen waren. Selber habe ich nichts davon mitbekommen.

Kurz darauf fanden wir uns in Port de Bouc wieder, diesmal ohne Kollision. Danach folgten Savona und Genua, wo mir der Kapitän seine Frau anvertraute, die in Marseille an Bord gekommen war. Genua war sehr schön, vor allem zu zweit. Athen lud ein zu einem Besuch an die Akropolis. Das Unglück wollte es, dass ich dort aber der Hälfte meiner Besatzung in die Arme lief und aus war's mit der Ruh. Wir hatten zwar im Nachhinein sehr viel Spaß, vor allem wegen der Polizeirazzia in Piräus, aber es war ganz anders, als ich mir den Tag vorgestellt hatte. Anders, ganz anders!

Der nächste Hafen war dann Saloniki. Wir erledigten unsere Einkäufe und gaben unser Geld für allerlei nötigen und unnötigen Krimskrams aus, wie Muskateltrauben oder eine bleischwere Amphore. Zum Glück erstanden wir es noch einigermaßen preiswert, denn am nächsten Tag schneite die 6. Amerikanische Flotte herein und die Preise haben sich über Nacht, wem verdenkt man es, verdreifacht. Bei einem Besuch an die Kathedrale von Saloniki stieg ich auch hinunter in die Katakomben, wo unter anderem Apostel Paulus in Banden lag. Ich fand dort ein kleines Knöchelchen und hatte die Hoffnung, dass es von Paulus stammen könnte, bis mich ein bibelfester Kollege aufklärte, dass Paulus doch nicht in Saloniki, sondern in Rom das Zeitliche gesegnet hatte. Weil mir das ganze dann doch zu makaber vorkam, bekam das Knöchelchen ein würdiges Seemannsbegräbnis.

Wir hatten das unglaubliche Glück, die Reise weiter nach Istanbul durch die Dardanellen ins Meer von Marmara fortzusetzen. Es war ein unvorstellbares Erlebnis. Zunächst die Anfahrt zu den Dardanellen. Der Lotse zeigte uns, wo der Überlieferung nach Troja liegen musste. Ich kann mich noch erinnern, es war ein schwülwarmer Tag und noch weit vor der Einfahrt in die Dardanellen lag eine blendend weiße Anhöhe. Wieso liegt da Schnee? Das gibt's doch gar nicht. Der Lotse klärte uns auf: Das waren zehntausende weißer Grabkreuze Gefallener des Ersten Weltkrieges aus der Schlacht um Gallipoli auf den Dardanellen. Etwas, um still dabei zu werden. Wozu ist Kreuz Nr. 8791 gefallen? Kennt ihn heute noch jemand? Wozu und für wen hat dieser eine Mensch so viel gelitten? Ich kenne mehrere Soldatenfriedhöfe, auch wenn dort zum Teil weniger Kreuze stehen. Und man fragt sich jedes Mal nach dem Sinn irgendeines Krieges. So auch hier. - Das Schiff windet sich durch die schmale Meerenge, an der Festung Channakkale vorbei und über ein dort auf Grund liegendes türkisches U-Boot, das dort kurz vorher durch einen schwedischen Dampfer zu den Fischen geschickt wurde.

Das waren aber nur negative Gedanken. Viele erheiternde sollten folgen. Wir machten fest in Kartal bei Izmit und sollten mit dem Heck anlegen. Was dann folgte, da können wir nur von Glück reden, dass das gut ging. Der Marmara-Lotse gab volle Kraft zurück und wir rasten rückwärts auf den Kopf der Pier zu. Hätten wir ihn getroffen, dann wäre uns die Heimreise gesichert gewesen. Einige von uns, die laut darüber Freude bekundeten, bekamen hinterher einen saftigen Rüffel vom Kapitän. Was wäre passiert? Wir hätten mit dem Heck die Pier mit voller Fahrt zerlegt. Die Schraube wäre hin gewesen, die Schraubenwelle hätte den Motor von seinem Fundament gerissen und weiteres wäre nicht auszudenken. Glücklicherweise stand ein starker Ostwind, der uns seitlich versetzte und wir schrammten backbords an der Pier vorbei, bevor der Kapitän sein Schiff wieder in der Gewalt hatte. Der Lotse bekam zum Abschied einen kräftigen Tritt in den Hintern und hat danach nie wieder ein Schiff betreten. Unserem Kapitän blieb auch nichts erspart.

Jedenfalls wollten wir anschließend Izmit, die nächst größere Stadt erkunden. Der Buschauffeur verlangte den Tarif bis nach Izmit, warf uns dann aber halberwege aus dem Bus. Per Anhalter erreichten wir dann doch noch unser Ziel, wobei wir u.a. an einer Bäckerei vorbeikamen, wo wir zuschauen konnten, wie schwarzbärtige Bäckergesellen mit ihren schmutzigen Füßen den Brotteig stampften. An Bord zurück ging das gelieferte Brot right away über Bord zu den Fischen.

Weiter ging es nach Beykoz im Bosporus. Mit der Fähre rüber nach Istanbul, das man doch gesehen haben muss, wenn einem schon die Gelegenheit dazu geboten wird. Es sollte fast mein letzter Ausflug gewesen sein, denn beim Überqueren der Straße achtete ich nicht auf die hinter mir ankommende Straßenbahn, ich sah nur die Entgegenkommende. Einen halben Meter hinter mir kam sie zum Stehen. Der arme Trambahnfahrer, was muss der erschrocken sein! Ich nicht weniger. Ein Türke, der mir das Leben gerettet hat! Seitdem lasse ich nichts mehr auf Türken kommen. Mit noch zitternden Knien erreichte ich 100 Meter weiter die Hagia Sophia, die gewaltige Kirche der oströmischen Christenheit. Unzählbare Sagen ranken sich um sie, wahr oder unwahr, ich kann es nicht beurteilen, denn ich war nicht dabei. Wer eine blühende Fantasie hat, kann ihr nebenan im Topkapi-Palast, dem Harem, seinen freien Lauf lassen. Im seinem Museum lagern unglaubliche Schätze, die einen Einblick in das Leben und Treiben der damaligen Sultane verschaffen. Ein paar hundert Meter weiter ist dann noch die Blaue Moschee von Sultan Ahmet zu bewundern, was Kaiser Wilhelm vor mir schon getan hat, denn er hat gegenüber einen Pavillon bauen lassen. Die Blaue Moschee ist übrigens die einzige Moschee weltweit mit sechs Minaretten, was den besonderen Status dieses islamischen Gotteshauses unterstreicht. Als letzte Sehenswürdigkeit dieses Tages stand der große Basar auf dem Programm, unendlich groß, verwinkelt mit all seinen orientalischen Düften, die es nur dort gibt.

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