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Interview mit Professor Dr. Bert Theodor te Wildt, Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen über Süchte, das Menschsein und das, was uns von Maschinen unterscheidet

Professor Dr. Bert te Wildt ist Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen. Foto: Artemed-Klinik

Dießen – Ein ständiges Kommen und Gehen ist in der Artemed-Klinik für Psychosomatik zu beobachten. Besucherinnen und Besucher mit Koffern, manche checken ein, manche checken aus. Der medizinische Leiter der Einrichtung, Chefarzt Professor Dr. Bert Theodor te Wildt, empfängt den Interviewer von aloys.news in seinem sehr stilvoll eingerichteten Arbeitszimmer. Es strahlt eine angenehme Atmosphäre aus. Wir sitzen in gehörigem Abstand zueinander und tragen Masken – Das Gespräch führte Alois Kramer

aloys.news: Sie sind einer der Ersten in der Wissenschaft gewesen, die auf das Thema „Spielsucht" aufmerksam gemacht haben, wie kamen Sie dazu?

Professor te Wildt: Ich habe im Jahr 2002 an der Medizinischen Hochschule Hannover mit den Forschungen dazu begonnen. Da steckte die so genannte Digitale Revolution noch in den Kinderschuhen. Der Grundgedanke war dabei, dass diese neue Form von Medialität einen sehr starken Einfluss auf die Psyche des Menschen haben wird. Ich habe mir das damals noch unter sehr allgemeinen Aspekten angeschaut. Die Frage, die ich stellte, war: Mit welchen psychischen Auswirkungen muss ich rechnen? Dann gründete ich eine Sprechstunde für „medienassoziierte psychische Störungen". Das klang richtig exotisch und ich wurde vor allem in Fachkreisen und Kongressen ziemlich belächelt. Zu meiner eigenen Überraschung kamen nur Patienten mit typischem Suchtverhalten in meine Sprechstunde. Es gab zu dieser Zeit bereits Casting-Shows und Reality-TV und ich dachte, dass da zu mir einige C-Promis kommen würden. Sozusagen die Menschen, die in diesen Sendungen gedemütigt wurden. Dabei war es immer dieses Suchtthema. Das hat natürlich immer eine inhaltliche Komponente. Es gibt die Sucht nach Pornografie, nach Sex, die Sucht nach Computerspielen, bei denen es meistens um Kampf geht. Aber auch die Sucht nach sozialen Medien. Da spielen Freundschaft und Partnerschaft eine wichtige Rolle.


aloys.news: Sie hatten Ihr Thema gefunden?

Professor te Wildt: In der Tat. Dieses Suchtthema hat mich angesprungen. Aus dieser klinischen Beschäftigung ist schließlich eine wissenschaftliche Forschung geworden. Darüber habe ich mich dann auch habilitiiert, Netzwerke gebildet, mich ein bisschen politisch engagiert und einen Verband zum Thema „Medienabhängigkeit" mit gegründet und geleitet.


aloys.news: Die Einstellung in der Wissenschafts-Community hat sich Ihnen gegenüber geändert?

Professor te Wildt: So ist es. Jetzt werde ich nicht mehr belächelt.


aloys.news: Sie haben in der Dießener Artemed-Klinik ein gutes Praxisfeld gefunden?

Professor te Wild: Die Internet und Computer-Spielsucht ist eine Form von nicht-substanzgebundener Sucht. Bis zu meinen Forschungen war eigentlich das Pathologische Glücksspiel eine anerkannte Suchterkrankung. Alle anderen Süchte wie Kaufsucht, Sexsucht, Sportsucht sind nicht anerkannt. Die umstrittenste von den Süchten ist die Arbeitssucht, Workaholism. Die Arbeitssucht ist diejenige, die dem Burnout sehr nahe liegt. Da fragt man dann, wie man in den Zustand der Überarbeitung kommt. Die Antwort ist, natürlich mit zuviel Arbeit. Man könnte von einem missbräuchlichen Umgang mit Arbeit sprechen. Da gibt es dann den Übergang in den Burnout. Wir behandeln hier alle Störungen, die in das Feld „Psychosomatik" gehören. Dazu gehören Kaufsüchte aber auch „Analog-Sexsüchtige". Aber klar hier therapieren wir zudem Angsterkrankungen und Depressionen. Allerdings beschäftigt mich sehr das Thema Exzessive Verhaltensweisen und ihre Folgen.


aloys.news: Sie haben vorhin noch den Begriff „analog" verwendet, da ist man sofort mit dem Begriff „Digital" dabei?

Professor te Wildt: Fast alle Verhaltenssüchte haben sich auf die digitale Ebene verlagert. Das muss man sehen. Die Glücksspieler haben einen wahnsinnigen Drive bekommen durch die illegalen Anbieter im Netz. Es gibt Sportwetten, Roulette, virtuelle Automatenspiele. Die kommen häufig aus Ländern, wo es dazu keine gesetzlichen Regelungen gibt, die so etwas einschränken. Ähnliches gilt für Online-Sexangebote. Die Sexsucht hat durch die Digitalisierung einen gewaltigen Schub bekommen. Das Smartphone gibt dem Benutzer schier unbegrenzte Möglichkeiten. Ich kann während des Einkaufs im Supermarkt nach einem One-Night-Stand-Partner Ausschau halten. Das betrifft im Grunde genommen alle Bereiche. Es unterstützt den Arbeitssüchtigen von überall aus zu arbeiten und immer erreichbar zu sein.


aloys.news: Sie benennen mit Ihrem Ansatz eine Besorgnis erregende Entwicklung.

Professor te Wildt: Mit der Digitalisierung ist unser Alltagsleben zunehmend abstrakter geworden. Immer weniger Menschen arbeiten körperlich. Unsere Bedürfnisse sind auch immer ziselierter geworden. Wir beschäftigen uns in vielen Bereichen mit Substituten, also mit dem Ersatz für eine Sache. Deswegen sind nicht nur Suchtmittel, die an unser Belohnungssystem andocken, problematisch, sondern auch Verhaltensweisen.


aloys.news: Da kommen Sie jetzt mit Ihrer Analyse in einen gesellschaftlichen Bereich.

Professor te Wildt: Stimmt. Ich habe mich immer für gesellschaftliche Prozesse interessiert und jetzt lege ich den Schwerpunkt der Analyse auf das Thema „Gesellschaft und Digitalisierung".


aloys.news: Hat das etwas mit Selbstentfremdung zu tun?

Professor te Wildt: Wir müssen uns darüber klar werden, ob die Digitalisierung zu einer Form von Selbstentfremdung führt. Wir sollten nachdenken, ob die neuen Medien eine Art „Entmaterialisierung" bringen. Hier stellt sich die Frage, was vom Menschen noch übrig bleibt, wenn Maschinen alles, was es vom Menschen zu lernen gibt, gelernt haben. Ist es das Bewusstsein? Ist es die Tatsache, dass wir einen biologischen Körper haben? Diesen Fragen müssen wir uns so schnell wie möglich stellen, weil wir sonst den Maschinen eigentlich immer nur hinterherlaufen, die alles abgreifen, was wir an Spuren hinterlassen.


aloys.news: Gibt es etwas, was wir dem entgegensetzen können?

Professor te Wildt: Vielleicht laufen wir den Maschinen schon hinterher und wissen es gar nicht? Es gibt Prognosen, die sagen, dass 30 bis 40 vielleicht sogar Prozent der Berufe in den nächsten Jahrzehnten verschwinden werden. Ihre Arbeit wird von Maschinen übernommen. Wir sehen das jetzt schon und die Pandemie katalysiert das noch. Wir müssen uns die grundlegende Frage stellen, was macht uns aus und was ist unbedingt erhaltenswert. Dazu gehört die Überlegung, ob alles, was Maschinen können auch ihnen überlassen sein sollte. Nicht alles was ökonomisch interessant und machbar ist, muss gut sein.


aloys.news: Können denn Maschinen so vieles, was die Menschen können?

Professor te Wildt: Ich glaube, dass Maschinen, was die sinnliche Wahrnehmung und die Speicherkapazität betrifft, den Menschen deutlich überholen werden. Aber beim Synthetisieren von Wahrnehmung, Gedächtnisabgleich und Handlungen, schaffen das Maschinen nicht. Insbesondere weil bei dem Aspekt der Handlung noch Bewußtsein dazu kommt, mit Aspekten wie Empathie. Das haben Maschinen nicht. Stellen Sie sich einen Operateur vor. Der kann während des Operirens zahlrreiche Daten über „Alexa" bekommen, aber er wird möglicherweise an einem Punkt eine Entscheidung über Leben und Tod fällen müssen. Die ist nicht delegierbar. Ganz viel von unserem Verhalten baut sich auf unserem impliziten Gedächtnis auf. Das ist etwas, was wir nicht einfach bei Google nachschauen können. Allerdings gibt es bei Computerprogrammen auch Überraschungen. Die bauen ja aufeinander auf und da stecken oft Informationen drin, bei denen man sich die Frage stellen kann: „Braucht es das überhaupt?"


aloys.news: Wir haben doch den Maschinenbegriff des Menschen bereits seit langem internalisiert?

Professor te Wildt: Zu mir kommen oft Patienten, die sagen, „Ich muss wieder funktionieren". Wir setzen uns selbst bewußt oder unbewußt in manchen Situationen mit einer Maschine gleich. Wenn Shakespeare Hamlet sagen lässt, dass der Mensch in seinem Denken einem Gotte gleich, dann brauchen wir nur in's Silicon-Valley schauen, da sitzen die Leute, die sicher manchmal denken, sie seien Gott. Denken Sie nur daran, was von Science-Fiction-Romanen früherer Zeiten heute schon alles Realtiät geworden ist. Die Menschen tun gut daran auf der einen Seite bescheidener zu sein, was das Gottsein betrifft, aber auch ein bisschen stolz darauf zu sein, was sie in ihren Grenzen alles leisten kann.


aloys.news: Was bedeutet das für Sie als Psychotherapeuten?

Professor te Wildt: In diesem Bereich sind wir mit Situationen beschäftigt, die sehr analog und nicht digitalisierbar sind. Entscheidende Momente im Leben eines Menschen haben häufig etwas mit Körperlichkeit zu tun. Der Sex, das unmittelbare Sich-Verlieben, der Zeugungsakt, die Geburt, das in's Leben herausgeführt werden, das Kranksein, das Gepflegtwerden, Sterbenskranksein, das Sterben selbst. Da zeigt sich vor allem durch dieses physische Moment unsere Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit. Diese Sachen lassen sich nicht durch Maschinen ersetzen. Hier müssen wir Mediziner und Psychotherapeuten viel mehr unsere Stimme erheben und politischer werden. Mich erstaunt, wie viele Wissenschaftler in ihren Überlegungen die Demontage des Menschen betreiben. Früher habe ich mich darüber aufgeregt, dass der Mensch nur als ein komplexeres Tier verstanden wurde. Jetzt passiert etwas Ähnliches, wenn man den Menschen nur noch als einen Rechner begreift – und zwar einen schlechteren als unsere Computer. Wir sollten die Menschen nicht unbedingt als Krone der Schöpfung begreifen, sondern vielmehr die Nachhaltigkeit unseres Handelns thematisieren. Überspitzt wäre die Forderung für Menschen „Reservate" zu bauen und vor dem zu schützen, was da alles kommt.

aloys.news: Professor te Wildt, ich bedanke mich für das Gespräch. 

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