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Mein „Tatort“: Eine 49 Jahre alte, komplizierte Beziehung. Teil 1. Von Alois Kramer

Drei Stunden am Boden liegen musste der Autor beim Dreh zum Tatort Foto: Dieter Benz

Ammersee West – Ja, ich weiß, dass der „Tatort" vor einigen Wochen seinen 50. Geburtstag feierte und nicht den 49. Für mich beginnt aber meine Beziehung zum „Tatort" erst ein Jahr später. Es war im Jahr 1971 als ich auf die Reihe aufmerksam gemacht wurde. Da machte ich mit meinen 16 Jahren im Sommer Sprachferien in England, schwamm 50 Meter Freistil in der Pokalstaffel meiner Schule in 31,5 Sekunden und verliebte mich auf der Insel vergebens in eine 22-jährige deutsche Psychologie-Studentin, namens Lis. Mäxle, mein Klassenkamerad erzählte mir vom "Tatort". Er fand den Krimi gut und ich vertraute seinem Urteil. Mäxle war ein guter Schüler in Mathe, das fiel auf. Latein- und Altgriechischübersetzungen gelangen ihm in den Schulaufgaben immer ganz ordentlich. Mäxle war  kein Streber, aber einer, der einfach nachdachte bei den Aufgaben. Außerdem konnte er sehr gut Fußball spielen. Er hatte die Position des Stürmers und des Spielmachers. Mäxle war gar kein kleiner Max, er hieß auch nicht „Max". Wir nannten ihn nur so, warum weiß ich nicht. Da wir grammatikalisch trainiert waren, nannten wir ihn auch „das Mäxle". Aus irgendeinem Grund sagten wir zum Sepp, dem Mathe-Crack, der wirklich "Sepp" hieß, „Ede". Wenn ich was in Mathe nicht kapierte, erklärte mir Ede mit entwaffnendem Charme, dass die Lösung doch ganz einfach sei. Das erdete mich sehr schnell. Mäxle betreibt heute eine renommierte Anwaltskanzlei, Ede studierte Informatik. Alles andere wäre Verschwendung von Ressourcen gewesen. 

Ich hatte also ein Jahr „Tatort" verpennt. Schluss aus. Das konnte ich nicht einholen. Damals wusste ich noch nicht, dass ich 46 Jahre später einmal selbst als Komparse bei einem Tatortdreh des Südwestrundfunks (SWR) dabei sein durfte. Ich „spielte" das Mordopfer, eine Leiche in "Vom Himmel hoch". Regie führte der Landsberger Tom Bohn. Insgesamt drei Drehtage sah das Drehbuch für etwa fünf Minuten Bildschirm vor. Zwei Mal drei Stunden lag ich in "meiner Praxis" als Leiche auf dem Boden. Der dritte Drehtag sah mich auf dem Stahlbett der Pathologie. Ich erinnere mich sehr genau, wie Ulrike Folkerts alias Lena Odenthal über mein Gesicht gebeugt, den bedeutenden Satz, „Ist er schon identifiziert worden" gefühlte 100 Mal aber mit unglaublicher Präzision in der Wiederholung zu ihrem Assistenten sagte. Beim ersten Mal, als sie das Wort "identifizieren" sagen sollte, kam sie ins Schleudern und verhaspelte sich. Bei den Wiederholungen machte sie eine Millisekunde Pause, bevor das Verb aus ihrem Mund heraus purzelte. Dann klappte es. Wenn die Kamera nicht lief, lächelte sie mich manchmal an, knapp 30 Zentimeter von meinem Kopf entfernt. Damals wusste ich auch nicht, dass mir am Samstag, 26.12. das vertraute Antlitz des bekannten Landsberger Strafverteidigers, Joachim Feller, in einem weiteren Tatort des Regisseurs Tom Bohn sibyllinisch entgegen lächeln würde.

Fernsehen durften wir im Internat so gut wie gar nicht. Es verdarb nur den Charakter. Der Apparat stand gut verschlossen im Aufenthaltsraum für die mittlereren Klassen. „Aufenthaltsraum" ist doch ein komisches Wort. Wir hatten uns überall im Haus aufgehalten, auf dem Gang, im Schlafsaal, im Speisesaal. Aber so wurde der ungemütliche Raum eben mal genannt. Der Fernsehapparat dort konnte nur von den Präfekten, unseren Aufpassern, allesamt Benediktinermönche, aufgesperrt, werden, wenn es etwas gab, was sie für uns zumutbar hielten. Das war beim damaligen Fernsehprogramm von insgesamt drei Sendern nicht besonders viel. Als wir 13 oder 14 waren, lieferte uns die Serie „Flipper" die Unterhaltung. Die Kleinen der 5. und 6. Klasse durften nur ganz selten fernsehen. In deren „Aufenthaltsraum" stand auch kein Apparat, soweit ich mich erinnern kann. Die Oberklassen, Unterprima und Oberprima, trafen sich im so genannten Casino. Dort erlaubte das Internatsreglement das Rauchen. Fernsehen war für die Oberklassen irgendwie uncool.

Der „Tatort" begann auch im Jahr 1971 am Sonntagabend um 8.15 Uhr. Nicht früher, nicht später. Alle vier Wochen durften wir nach Hause fahren. Das Wochenende war kurz. Es begann am Samstagnachmittag nach der Schule. Es gab ja noch Samstagsunterricht. Mit dem Zug ging's in's Allgäu. Das Dorf, in dem ich geboren wurde, hatte zwar einen Bahnhof. Der wurde aber glaube ich, in dem Jahr stillgelegt. Wegen der „Bahnreform". Die träge Bahn, die so beschaulich in die oberschwäbische Kreisstadt tuckerte, fuhr nicht mehr. Außerdem ließ ich mich gerne von meinem Vater vom Bahnhof in der Kreisstadt abholen. Auch die damalige Kreisstadt ist keine Kreisstadt mehr, sondern nach der Gebietsreform dieser Jahre nur noch „kreisfrei". Den Luxus erlaubten wir uns: Abgeholt werden. Mit dem S-Klasse-Mercedes. Das fand ich beeindruckend, weil es mich aus der Menge der Zuggäste, die mit mir den Bahnsteig verließen, heraushob.

Also am Samstag fuhr ich mit dem Zug nach Hause, am Sonntagabend zurück, wenn es gut ging hatte ich 30 Stunden Zeit für mich. Ohne Überwachung, ohne Schlafssaal und Studiersaal, ohne Patres. Blöd nur, dass der Zug erst kurz vor 8 Uhr abends in der Internatsstadt ankam. Wir, das heißt die anderen die aus meiner Richtung stammten und diesen Zug nahmen, gingen schnellen Schrittes durch die Stadt. Taxi wollten wir uns prinzipiell nicht leisten, das roch nach Verschwendung. Eines der Erziehungsprinzipien im Internat war Bescheidenheit, Kargheit. Schlicht das Prinzip von „Occam's Razor", dem „Raisermesser" des mittelalterlichen Franziskaner-Paters Wilhelm von Ockham. Er forderte, dass man nichts Überflüssiges machen sollte, wenn es auch einfacher ging. Nach ihm ist übrigens die Occam-Straße im Münchner Stadtteil Schwabing benannt. Er starb nämlich im Franziskaner-Kloster. Das heutige Franziskaner im Zentrum der Landeshauptstadt erinnert noch an den Standort des Klosters.

Die Folge der späten Ankunft mit dem Zug: Wir erreichten den Aufenthaltsraum, in dem der „Tatort" lief, erst so gegen 20.20 Uhr oder im schlimmsten Fall 20.30 Uhr. Zu spät für die Exposition des Krimis. Wir verstanden dann einfach einen großen Teil des Films nicht. Manchmal hatten wir Glück und der Mord geschah nicht gleich zu Beginn des Krimis, sondern erst nach einer Viertelstunde.

Damals griff noch nicht die mittlerweile eherne Regel, dass der Mord im „Tatort" immer in den ersten drei Minuten passieren musste. Das zweite „Tatort"-Gesetz war klar. Es muss immer einen Mord geben. Ich erinnere mich nur an zwei Ausnahmen. Jüngst der Mordanschlag auf Professor Börne im Münsteraner „Tatort", den der snobistische Rechtsmediziner überstanden hatte und einen „Tatort" mit Martin Lüttge irgendwo im Ruhrgebiet. Aber es kann sein, dass ich mich bei Lüttge auch täusche. Man führt ja nicht Buch über die „Tatorte", die man gesehen hat. Ich jedenfalls machte das nicht. Obwohl mich doch der eine oder andere „Tatort" mächtig beeindruckt hatte, so sehr, dass ich den Inhalt und die Darsteller noch Jahrzehnte nach der Ausstrahlung hersagen kann, Wie zum Beispiel der Tatort „Reifezeugnis" mit einer nackten Nastassja Kinski vom Regisseur Wolfgang Petersen.

Der „Tatort" begleitete mich nicht nur durch mein Internatsleben, er bildete auch eine Konstante meines ganzen bisherigen Lebens. Nie Lindenstraße, immer Tatort. Bei der Lindenstraße hatte mich schon diese betuliche Musik genervt. Die Doldinger-Musik für den Tatortvorspann versprach Nervenkitzel. Ähnlich wie die coole Musik zum „Siebten Sinn" oder zum ZDF-Sportstudio, das man verzweifelt am Samstagabend nach „Wünsch Dir was" oder „Wetten dass" oder sonst einer heiligen Messe an diesem Abend anschaute und wartete, bis die Eltern ins Bett gingen. Denn die guten Filme brachten die Sender eh erst gegen 23 Uhr oder 23.30 Uhr. 

Das Muster für das Wochenende ist seit vielen Jahrzehnten beim Ersten gleich geblieben. Ein harmloser Familienfilm eröffnet das Wochenende am Freitagabend. Ja keine Probleme. Geldsorgen werden durch Erbschaften gelöst. Beziehungen wieder durch unerwartete Begegnungen aufgefrischt. Gerade zum Witwer gewordene Männer treffen auf die unsterbliche alte Liebe. Kein Stress. Die Botschaft ist klar: Irgendwo ist ein Licht am Ende des Tunnels. Lasst uns entspannt in den Samstag und Sonntag gehen.

Dann der Sonntagabend. Er schießt uns ein auf den Kampf im beruflichen Alltag. Auf die lästigen Kollegen, auf das bevorstehende Gespräch mit dem Chef, weil wieder mal was nicht geklappt hat. Die Zahlen nicht stimmen oder sonst was Ärgerliches. Aber auch da zeigt der „Tatort". Irgendwo ist immer eine Lösung. 

Fortsetzung folgt

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Kommentare 1

Philipp am Dienstag, 29. Dezember 2020 11:09

Also wenn das mal nicht der beste Tatort überhaupt war

Also wenn das mal nicht der beste Tatort überhaupt war :)
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Donnerstag, 25. April 2024

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