Dießen – Folgender Text ist die Eröffnungsrede, die der Dießener Martin Gensbaur gestern Abend im Dießener Blauen Haus vortrug. Das Blaue Haus bietet dem Künstler eine wesentlich größere Wandfläche als sein Kunstfenster an der Dießener Hofmark. Über 50 großformatige Arbeiten hängen seit vorgestern an der Wand und warten darauf gesehen zu werden. "Bei etwa 40 Gästen, die zur Eröffnung kamen, wäre das Kunstfenster gesteckt voll gewesen. Mit Corona war das Blaue Haus jedenfalls die sicherere Variante", so Martin Gensbaur. Der zweite Bürgermeister und andere Vertreter der Gemeinde waren bei zugegen. Die sehenswerte Ausstellung ist heute noch bis 19 Uhr im Blauen Haus an der Prinz-Ludwig-Straße 23 geöffnet:

"Der oder die, die den Eingang zum Blauen Haus umgebaut hat, muss schon vor ein paar Jahren etwas vom Titel meiner Ausstellung geahnt haben: „Parallelwelten". Jetzt hängt in der Schleuse zwischen der Welt da draußen und der hier innen ein Bild, das zuletzt im Kunstfenster in der Ausstellung mit dem Titel „zu schön um wahr zu sein" zu sehen war. Es ist das einzige Bild, das bereits vor Beginn der Pandemie gemalt wurde (meine Frau Ulli hat mich extra gebeten, das Unwort heute nicht in den Mund zu nehmen, weil es niemand mehr hören will – ich werde mich bemühen). Nur dieses Bild, das nicht ganz in der Ausstellung hängt, zeigt etwas anders als alle anderen Bilder. Das Bild aus der Dießener Hofmark zeigt eine Welt, in der es laut, stressig und viel zu eng ist. Als ich hier das letzte Mal 2008 meine Ausstellung mit dem Titel „Ansichtssache" zeigte, konnte man, wenn die Tür aufging, sein eigenes Wort nicht mehr verstehen, so laut war der Verkehr. Seit dem Umbau ist Ruhe. Willkommen in einer anderen, in einer Parallelwelt! Willkommen in meinen Bildern. 


Manches Motiv werden Sie gut kennen und doch neu sehen. Ich jedenfalls habe die ehemalige Druckerei Huber, die Graphische Kunstanstalt, der die Verbindung von Gensbaur und dem Ort Dießen vor mittlerweile einem halben Jahrhundert zu verdanken ist, noch nie so gesehen. Ein strahlend blauer Himmel, den man in Italien „terso" nennt, kein Wölkchen, außer die Spur eines Flugzeugs, kein Stau vor der Ampel, kein Fahrzeug weit, kaum sichtbar bröckelt der Verputz und auch der rote Anstrich wirkt italienischer als er in Wirklichkeit ist. Oder die Baustelle in den Seeanlagen. Eine Baustelle, an der nicht gebaut wird, streunende Hunde. Die Ruhe dort unten kann man förmlich spüren. Auch auf der Piazza Garibaldi ist es still. Ein Mädchen sitzt auf einer der neuen Steinbänke, die wie Ledergarnituren aus einem Möbelhaus aussehen, wie in Erwartung, dass der Vorhang gleich aufgeht und die Vorstellung beginnt. Die Piazza Garibaldi ist das Zentrum von Scarlino, dem zweiten Schauplatz meiner Bilder in der südlichen Toskana. Der Kreisverkehr Rondelli im nahen Follonica ohne Verkehr. Nur in meinen Bildern. Fragen Sie bitte nicht wie oft ich in diesem heißen Sommer die camionisti, die Lastwagenfahrer, bitten musste, nicht exakt vor meiner Staffelei zu parken und das Motiv zu verdecken. Und wenn man zum Meer kommt, dann sollte man nach links abbiegen. Die Pfeile habe ich gleich zweimal gemalt — parallel. 


Der erste Maler, der, soviel ich weiß, das Wort „parallel" in den Mund nahm, war Paul Cézanne im Gespräch mit seinem späteren Biographen Joachim Gasquet, der nach dem Tod des Meisters alles aufschrieb. Der Satz: „Die Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur" wurde in der Folge zum Leitspruch der Klassischen Moderne. Das liegt über 100 Jahre zurück, beschäftigt mich als Maler auch heute. Welcher Maler, Fotograf oder Filmemacher erzeugt eigentlich keine Bilder parallel zur Natur, so realistisch diese auch erscheinen?


Nehmen wir die Bilder vom Walchensee, meinem dritten Standort. Mit dem I-Phone bleiben dir nur wenige Sekunden. Ein aufgeblasener Flamingo wird als Partyboot zu Wasser gelassen. Bayern wird für einen flüchtigen Augenblick zur Karibik. Auch die Webcam des Hotels Eibsee zeigte in diesem heißen Sommer vergleichbar „karibische" Momente, wie bei den beiden Bildern dort drüben. Klicken Sie jetzt, heute Abend, ruhig einmal auf denselben Link und Sie werden erkennen, dass es sich auch bei diesen Bildern um eine Parallelwelt handelt, eine andere als die da draußen. 


Und das gilt auch für die Webcams in den Hohen Tauern, die ständig Bilder ins Netz liefern, vom Moserboden, der Rudolfshütte, dem Wallackhaus an der Glockner-Hochalpenstraße oder von der Adlersruhe Süd. Kaum zu glauben, dass jemand auf über 3.400 m Seehöhe täglich seinen Zeichenblock auspackt und malt. Die Webcam liefert solche Bilder und ich male das genauso wie den Blick aus dem All auf einen ausbrechenden Vulkan in der Südsee oder eben die Karibik. Ohne die Augmented Reality, die AR unserer Tage, die jedem, der ein Handy mit Internetzugang besitzt, jederzeit zur Verfügung steht, wären solche Bilder nicht möglich. Ja, es gibt eine Kunst, parallel zur Natur, heute mehr denn je. Es lebe die Malerei!"