St. Ottilien – Johannes Gautama Gierlichs ist an diesem Mittwoch, 28. Oktober, zum ersten Mal in der Klosterkirche von St. Ottilien. Wenn der Organist aus München eine neue Orgel kennenlernen möchte, dann ertastet er sie. So auch vorige Woche auf der Empore der neugotischen Kirche. Der 25-Jährige fährt mit den Fingern sorgsam über die Register, zieht sie heraus, er erspürt mit der Hand die drei Manuale des Instruments, seine Füße streifen die Pedale. Noch ist kein Ton zu hören. Man merkt, dass er ein Gefühl für den Raum, den die Königin der Instrumente hier einnimmt, entwickeln muss. Pater Vianney Meister erklärt ihm, wo sich welches Register befindet. Er führt die Hand des Organisten. Johannes Gautama Gierlichs ist kein gewöhnlicher Organist. Er ist blind. Geburtsblind. Er kann lediglich helle Stellen in seinem Sehfeld, wenn man das überhaupt so sagen darf, von dunklen unterscheiden. Daher ist er auf die Hilfe anderer Menschen ganz besonders angewiesen. Der blinde junge Mann begreift sehr schnell. Nach wenigen Minuten des Abtastens der Ottilianer Orgel setzt sich Vertrautheit ein. Dann ist er zum Spiele bereit. „Toccare" heißt dieses Ertasten, Berühren und Erspüren mit den Händen und den Fingern im Italienischen. Viele kennen den Ausdruck vom Besuch in Museen in Italien. Häufig ist unter einem Bild zu lesen: „Non toccare". Übrigens ist das der Ursprung der Orgelkompositionsform „Toccata". Sie war im Barock sehr beliebt. Johann Sebastian Bach hat viele Toccaten geschrieben, um die Leistungsfähigkeit einer Orgel auszuloten. Deswegen ist sie nicht in eine solche strenge Form wie eine Fuge oder Tanz gebunden. Die Stücke von Bach gehen oft von tiefen Tönen in die Höhe, von Leise zu Laut um das Klangspektrum des Instruments zu erkunden. Das wohl bekannteste Orgelstück ist die Toccata, Bachwerkeverzeichnis 565. Ein richtiger Renner. Kennt jeder, der nur ein bisschen Ahnung von klassischer Musik hat.

Den Weg zur Orgelempore über die schmalen Steintreppen hatte der Münchner Musiker mithilfe seines Blindenstabes und seiner Mutter gemeistert. Der junge Mann mit den dunklen wuscheligen Haaren schritt sehr vorsichtig voran. Da er nicht sehen kann, was er macht, neigt er zum Kommentieren seiner Handlungen. „Ah das ist der Cymbelstern", sagt er zum Pater Vianney, dem Chefkantor der Ottilianer Abtei, als er dieses Register beim Herausziehen hört. Das helle Glockengeläut wird der Organist zum Schlusslied des adventlichen Konzerts einbinden. Es ist das Lied „O du fröhliche", es ist in C-Dur gesetzt. „Da muss ich mein Arrangement für Orgel und Kammerorchester nochmal um eine große Sekunde nach unten transponieren", erklärt er seiner Mutter und den fünf weiteren Zuhörern. „Das geht schnell. Ich habe ja meinen Rechner mit dem Kompositionsprogramm" meint er. Später wird er einem kleinen Kreis zeigen, wie das funktioniert, als Blinder mit dem Komponierprogramm „capella" zu arbeiten. Aber das ist ein Kapitel für sich.

Zuvor gibt er noch eine kleine Probe seines Könnens mit einem Präludium und einer Fuge in C-Dur vom größten Orgelkomponisten aller Zeiten. Von Johann Sebastian Bach. Das Publikum auf der Empore ist gespannt und hört Gierlichs gebannt zu. Dort sitzen seine Mutter, Doris Pospischil und ihr Mann Hans-Joachim Scholz, Pater Adalbert, Pater Vianney und Frater Odilo. Nur wenige Stellen sind zu hören, an denen er eine falsche Note spielt. Gierlichs entschuldigt sich. Er habe soviel Zeit mit Komponieren verbracht, dass er sich jetzt wieder auf's Üben verlegen muss. Er hat keine Noten vor sich liegen, er spielt alles auswendig. Dann erwähnt er, dass er ja auch noch Gottesdienste begleitet und auf Hochzeiten spielt.

Der Grund des Besuchs von Johannes Gautama Gierlichs im Kloster St. Ottilien ist einfach. Er soll bei den beiden – programmatisch einheitlichen – Adventskonzerten der Ammerseerenade am Freitag, 11. Dezember, spielen. Eins findet am Nachmittag um 15.30 Uhr, das andere um 19.30 Uhr. „Wenn alles gut geht und der Lockdown nicht noch mehr ausgeweitet wird", hofft Scholz. Er und seine Frau sind die Initiatoren, Organisatoren und künstlerischen Leiter des Festivals. Das ist mittlerweile in sein siebtes Jahr gekommen und hat sich einen festen Platz im kulturellen Leben der Region und darüberhinaus erobert.

Das Datum für das Konzert ist gut gewählt, bemerkt Doris Pospischil. Die Benediktinermönche feiern den 1300. Namenstag ihrer Patronin, der Heiligen Ottilie am Sonntag, 13. Dezember. Diese aus dem Elsass stammende spätere Äbtissin des Klosters Niedermünster wurde blind geboren. Als sie im Alter von zwölf Jahren von Erhard von Regensburg getauft wurde, soll sie das Augenlicht erlangt haben. Daher gilt sie als Heilige für Augenleiden.

Im Wappen der im 19. Jahrhundert gegründeten Benediktinerabtei nördlich des Ammersee steht unter einem fünfarmigen Leuchter das Motto der Mönchsgemeinschaft: „Lumen caecis", was übersetzt entweder „Ein Licht den Blinden" oder auch „Das Licht den Blinden" heißt. So verstehen sich die Kleriker von St. Ottilien als Menschen, die anderen das Licht bringen.

Doris Pospischil hat eine ähnliche Intention: „Wir möchten mit dem Konzert den Menschen eine frohe Botschaft bieten", stellt sie fest und betont den emotionalen Charakter des Weihnachtsfestes, auf das die beiden Konzerte hinweisen.

Information: Wegen der Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit Corona werden derzeit nur Kartenreservierungen entgegengenommen. Die Karten kosten von 15 Euro für Hörkarten bis 45 Euro für Sichtkarten im Hauptschiff. Für gemeinsame Haushalte stehen Doppelplätze zur Verfügung. Die Karten werden nach Bestelleingang vergeben. Verbindliche Anmeldung vorab mit Platzierungswunsch und Angabe der Personenzahl nur an: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! Es gelten die Hygienevorschriften der Erzabtei St. Ottilien am 11. Dezember. Zur Zeit sind das: Tragen des Mund-Nasenschutzes bis zur Einnahme des Sitzplatzes, Einhalten der Abstandsregeln, Begrenzung auf maximal 100 Besucher, Ausgang durch separates Portal. www.ammerseerenade.de