Folge 65

Inzwischen hatten die heftigen Winterstürme eingesetzt und es war höchste Zeit, die Großen Seen zu verlassen. Toronto wurde uns beinahe zum Verhängnis. Wir waren schon innerhalb der Hafenmolen, als uns ein Sturm von rechts querab stark zu schaffen machte und unser Vorschiff an die linke Hafenmole drückte. Danach schrammte das Heck. Ein spazierendes Pärchen auf der Mole vergaß vor Schreck, davon zu laufen und blieb wie angewurzelt stehen, als auf einigen Metern Entfernung 2000 Tonnen Stahl in den Pier krachten. Die Schiffsschraube mahlte im Sand. Glücklicherweise lagen dort nicht, wie üblich bei dieser Bauweise, Felsblöcke und der Schaden hielt sich insgesamt in Grenzen. 

Wir waren nach der Beilegung eines Kanallotsenstreiks eines der letzten Schiffe, das die Seen verlassen konnte. Der Streik war psychologisch richtig und deshalb wirkungsvoll angesetzt, denn der Winter hatte sich vorzeitig zu Wort gemeldet und es bildeten sich schon dicke Eisschollen auf dem St. Lorenz. Da unser Schiff eisverstärkt war, machten sie ihm wenig zu schaffen und wir erreichten ohne Mühe den offenen Atlantik. Mehrere Schiffe hinter uns hatten nicht mehr dieses Glück und konnten sich erst sechs Monate später von ihren Fesseln befreien.

Wie schon auf der Hinreise mit dem netten Kollegen von Fox Island (ich weiß immer noch nicht, wo es liegt) konnte ich mich auch auf der Rückreise mit meinem Sprechfunk austoben, obwohl private Gespräche, wie auch Kontakte über die Telegraphie, streng verboten waren. So wurde ich ungewollt Zeuge eines mir namentlich bekannten Kollegen aus dem gleichen Verein mit einer norwegischen Kollegin, da beide ihre Sprechfunksender auf volle Leistung geschaltet hatten. Wir passierten gerade Montreal, als er noch einmal ihre gemeinsamen intimen Erinnerungen, die so intim gar nicht waren, wachrief. Er bedauerte bitterlich, nicht die ihm gebotene Gunst der Stunde ergriffen zu haben. Sie, anscheinend die Erfahrenere, tröstete ihn mit den Worten: „It's now too late my boy! Next time better"

Beider Pech war, dass ganz Montreal im Radio ihr Techtelmechtel mitbekam, wovon beide aber keine Ahnung hatten. Zum Überfluss stand es am nächsten Morgen auch noch in vollem Wortlaut in der Zeitung. Mein Kollege hatte noch lange an seinem Image zu tragen. Dabei ist es doch nur all zu menschlich. Hätte mit anderem Vorzeichen mir auch passieren können…

Der Atlantik empfing uns gleich mit Windstärke 12, dem Maximum, was er zu bieten hatte. Hier machte sich unsere (kleine) Größe bezahlt, denn wir hüppelten wie ein Schwan über jede Welle. Da hatte es die „Queen Mary", die uns auf einer Meile Entfernung passierte, schon etwas schwerer. Ihr Bug tauchte wie ein U-Boot bis zu ihrer Brücke in die Brecher und konnte erst beim langsamen Wiederauftauchen das Wasser von ihren Aufbauten abschütteln. Die drüben werden wohl gedacht haben: Die armen Kleinen, so wie wir dachten: Die Armen da drüben. Unser Geschirr ging zwar großteils zu Bruch, aber was noch schlimmer war: Die Brecher rissen die Entlüftungshutzen unserer Trinkwassertanks weg, sodass unser kostbares Michigansee-Trinkwasser versalzt und dadurch ungenießbar wurde. Wir mussten erst auf unsere Biervorräte zum Zähneputzen zurückgreifen und uns dann ekelhafterweise mit den Eisvorräten aus unserer Kühlkammer behelfen, sie von den gefrorenen Fischen und dem Gemüse befreien, filtern und abkochen, bevor wir mit den letzten Tropfen an destilliertem Wasser aus meinem Batteriepflegebestand unseren Bestimmungshafen Rotterdam erreichten. Es war knapp und wir merkten am eigenen Leibe, dass der Mensch ohne Trinkwasser keine lange Lebensdauer hat. Gut, ok, wir hätten im äußersten Notfall Le Havre anlaufen können, aber von dort nach Rotterdam waren es eh nur noch ein paar Stunden.

Fortsetzung folgt