Schriftgröße: +
8 Minuten Lesezeit (1510 Worte)

"Ernesto, der Seebär – Vom Tretauto zum Schlachtschiff" Erinnerungen des 90-jährigen Dießener Ernesto Rudolf Hofmann. Auf der Insel Java geboren, landet er auf seine alten Tage am Ammersee. Der Fortsetzungsroman eines bewegten Lebens: Folge 13

Ernesto Rudolf Hofmann. Graphik: Pax et Bonum Verlag

Fortsetzung vom 15.5.2021, Folge 13

In der Zeit erlebte ich hautnah, wieder mal in der Straßenbahn, etwas, worüber ganz München in der ansonsten tristen Zeit lachte. Eine inzwischen stadtbekannte Straßenbahnschaffnerin tyrannisierte mal wieder ihren Arbeitsbereich mit ihrer frechen Schnauze, was sich die Leute sonst immer gefallen ließen. Sie war eine echte Hannoveranerin mit einem Gehabe, das nicht jedermann in Bayern zu schätzen wusste. Eines Tages, ich war mit an Bord auf der hinteren Plattform des Triebwagens, als es einem gestandenen Münchner zuviel wurde. Er sagte nicht ein einziges Wort. Er zog an der Klingelleine. Zweimal. Das bedeutete dem Fahrer, er solle halten. Mitten zwischen zwei Haltestellen. Der Fahrer wusste von nichts und bremste brav. Der Münchner nahm die Schaffnerin am Schlawittchen hoch, ging mit ihr, hängend und zappelnd an seiner Faust, zum Ausgang, hielt sie nach draußen, hielt sie eine Weile so, um sie die ungewohnte Umgebung betrachten zu lassen, und öffnete dann ganz gemächlich seine Pranke. Sie landete mitten auf der Straße. Er zog einmal an der Klingel und die Trambahn setzte ihren Weg fort. Ohne Schaffnerin. Das scheint ihr letzter Auftritt in München gewesen zu sein, denn sie ward nie mehr gesehen. Der Mann hatte die Sympathie an seiner Seite.

Nachdem nun die Luft mittlerweile auch in unserer nächsten Nähe ziemlich eisenhaltig geworden war, entschloss sich unsere Mutter zum Standortwechsel. Ihr guter Freund Hans Gut aus der Schweiz hatte ihr dazu geraten, denn weit vom Schuss in Überlingen am Bodensee wohnte ein guter Bekannter von ihm. Der erklärte sich mit Freude dazu bereit, ein weibliches Wesen, wenn auch mit lästigem Anhang, als Haushälterin bei sich aufzunehmen. Dazu wurde sein Haus vorsorglich ebenfalls mit einem Schweizer Schutzbrief ausgestattet.

Seinen Hintergedanken ließ er noch am selben Abend freien Lauf. Er ließ nichts anbrennen und wollte meiner Mutter sofort an die Wäsche, worüber sie überhaupt nicht begeistert war. Daraufhin mussten wir die uns großzügig zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten gegen ein Dachkämmerlein mit Gaube austauschen. Die Aussicht dagegen war phänomenal. Der Dampfer fuhr unter dem Fenster vorbei und abends blinkten die Lichter aus der Schweiz zu uns herüber. Der Säntis lag zum Greifen nah.

Nun ja, so ist das halt bei einem Menschen, dessen Hormonspiegel anscheinend durch längere Abstinenz die Unterkante Oberlippe erreicht hat. Wir machten jedenfalls das Beste daraus. Mittlerweile ging ich dort zur Schule, an die ich aber keine allzu guten Erinnerungen habe.

Während einer Bodensee-Rundfahrt traf ich auf eine dümmliche Klassenkameradin, die mich anschließend in der Klasse glaubte, lächerlich machen zu müssen, weil ich ihr auf dem Schiff die Tür aufgehalten habe. Was daran lächerlich sein soll, weiß ich bis heute nicht. Ich bin lebenslang ein höflicher Mensch. Man sagt mir auch heute immer noch nach, ich sei ein Gentleman der Alten Schule, was ich aber keineswegs als Kompliment, sondern als normal betrachte. Es ist traurig, dass andere das nicht sind. Das hat überhaupt nichts mit Erziehung zu tun, mehr mit der inneren Einstellung und der inneren Sonne, um die man dankbar sein muss, die aber anscheinend nicht bei jedem scheint.

Religionsphilosoph Sri Ramana Maharshi, diesmal aus Indien, weiß zu dem Thema folgendes zu sagen: "Deine wahre Natur ist es, glücklich zu sein; es ist daher nicht falsch, nach diesem Zustand zu streben. Falsch ist nur, die Sonne außen zu suchen, denn sie scheint innen". Damit ist doch alles gesagt, meine ich. Deshalb braucht man sich über Dummheit auch nicht zu ärgern. Da ist sich Sri Ramana Maharshi voll und ganz mit mir einig.

Zwei meiner Freunde gingen eines Tages mit einem Messer auf einander los. Ich warf mich dazwischen, versuchte den Streit zu schlichten und entwand einem der beiden das Messer, das er mir aber vorher noch der Länge nach durch die Handfläche zog. Die Narbe habe ich heute noch. Das fließende Blut hatte wenigstens den Effekt, dass der Streit abrupt zu Ende war.

Als die Hand wieder verheilt war, missbrauchte die Klassenlehrerin, nebenher BDM-Chefin von Überlingen, mein Vertrauen und meine Anhänglichkeit, indem sie mich in ihrem Garten den Wurzelstock einer soeben gefällten Riesentanne ausgraben ließ. Das war der erste und einzige Wurzelstock, an den ich mich in meinem weiteren Leben gemacht habe - Ich war damals 13.

In der Ferne lag das Gelobte Land, die Schweiz. Das sahen andere auch so. Die Idylle hüben und drüben war unbeschreiblich. Um das Gelobte Land auch mal aus nächster Nähe bewundern zu können, boten sich Dampferfahrten nach Konstanz. Noch auf dem Bodensee gesellten sich zu beiden Seiten des Dampfers je ein Boot der Wasserschutzpolizei hinzu. Es wurde wohl das Wasser geschützt, aber weniger die Verzweifelten, die ab und zu in ihrer Not vom Schiff sprangen um an das Ufer des vermeintlichen Paradieses zu schwimmen. Es hat wenig genützt, denn die Schweizer lieferten die Flüchtlinge, die es geschafft haben, postwendend an Deutschland aus. Der Tod war ihnen so oder so sicher. Aber auch die deutsche Polizei war nicht von Pappe. Mir ist aus Überlingen noch stark eine Szene in Erinnerung, in der der Ortspolizist einen armen Mann die Hauptstraße entlang prügelte, ein schrecklicher Anblick. Keine Ahnung wessen der Polizist ihn beschuldigte.

Den ersten Kriegstoten meines Lebens sah ich in Überlingen. Dort befanden sich mehrere Stollen eines Rüstungsbetriebes, ich glaube von Dornier. Eines Tages wurde ein erster Angriff auf Überlingen geflogen und es folgten mehrere schwere Explosionen. Natürlich lief ganz Überlingen zuhauf um zu schauen, was denn da passiert war. Und schon wurden Bahren an uns vorbei getragen, die keine Zweifel offen ließen, dass uns nun auch der Krieg in Überlingen eingeholt hatte. Nachdem auch schon der Kanonendonner der Franzosen lautstark zu hören war, entschlossen wir uns zur Flucht nach München, wo wir wenigstens immer noch unsere Wohnung hatten, wenn auch mit Einquartierung.

Und so ließen wir Überlingen hinter uns, nicht aber bevor wir unserem Kaninchen sein weiteres Leben geschenkt haben. Wir hatten bei einem Weinbauern ein goldiges Kanickel mit Kulleraugen erstanden mit der vordergründigen Absicht, für "schlechte Zeiten" einen Braten in der Röhre zu haben. Dem Weinbauern wurde eingeprägt, dem Kaninchen zu noch mehr Pfunden zu verhelfen. Im Hinterkopf aber wussten wir ganz genau, eingedenk unserer damaligen "Hühner", dass wir dieses goldige Kerlchen, das uns so treuherzig anschaute, nie würden essen können. Es gehört also, auch nach 67 Jahren, immer noch uns und wenn der Bauer es nicht widerrechtlich gemeuchelt hat, dann müsste es jetzt so groß wie ein Mammut sein.

Hinter Kempten gerieten wir in einen Tieffliegerangriff. Ein menschlicher Pilot überflog unseren Zug ein paarmal und gab den Insassen die Gelegenheit, sich auf dem angrenzenden Stoppelacker in Sicherheit zu bringen. Erst dann nahm er die Lokomotive unter Beschuss. Irgendwie kamen wir nach Kempten zurück, ich weiß gar nicht mehr wie, und hatten dann wenigstens die Gelegenheit, uns die Altstadt anzuschauen, bevor die Fahrt unbehelligt nach München weiterging, wo uns unsere Wohnung wieder freudig aufnahm.

Natürlich nahm ich sofort meinen Job als Ministrant wieder auf. Unser Treffpunkt war die Unterkirche von Hl. Blut in Bogenhausen. Als die Kirche während eines Angriffs in 1943 ausbrannte, verlegten wir unseren Jugendtreff in die Turmstube von St. Georg, die berühmte Barockkirche St. Georg, wo heutzutage jeder, der glaubt in München etwas gelten zu müssen, beerdigt sein möchte. Ein echter Bogenhausener kommt auf diesem Promi-Friedhof schon gar nicht mehr rein. Zu diesem Zweck wurde leider auch unser Leichenhäuschen abgerissen, das nach unserer Turmstube zum Ministrantentreff umfunktioniert worden war. Jetzt können gottlob noch drei Promis mehr rein. Die Nordseite war aber im Widerspruch zum Kirchenführer „Ehemalige Pfarrkirche St. Georg München-Bogenhausen" schon von jeher, soweit ich mich zurück entsinnen kann, zum Friedhof gehörend.

Hier erlebte ich gerade die Zeit, als Pater Wehrle (ihn selber kannte ich nicht) und Pater Delp vor dem Volk aus der St. Georgs-Kirche heraus von der Gestapo verhaftet wurden. Ihre Predigten waren der Gestapo schon lange ein Dorn im Auge. Pater Delp war unser Jugendseelsorger, einen besseren hätten wir uns nicht wünschen können. Wir liebten ihn. Ihm wurde nachgesagt, er sei an der Verschwörung vom 20. Juli („Kreisauer Kreis") gegen Hitler beteiligt gewesen. Schwer zu glauben, denn einen sanftmütigeren Menschen kann man sich nicht vorstellen. Sie hatten das Pech, Beichtväter von „Verschwörern" zu sein, als sie von diesen über den Begriff „Tyrannenmord" befragt wurden und somit vom Volksgerichtshof als Mitwisser gestempelt wurden.

Schon recht bald begannen wir mit der Räumung des Schutts in unserer Hl. Blut Kirche. Von ihr standen nur noch die Außenmauern und die Säulen, alles andere lag meterhoch im Innenraum. Wir Ministranten empfanden es als eine Ehre, mit Schaufel und Schubkarren dabeisein zu dürfen und wir wurden auch wie die Erwachsenen entsprechend entlohnt. Was waren wir Buben stolz, neben den Erwachsenen sitzen und unsere Kehlen mit dem ersten Bier unseres Lebens (!) schmieren zu dürfen. Dem Alkohol (außer dem Messwein) noch völlig ungewohnt, wollten wir 13jährigen nun erst recht den Erwachsenen zeigen, wie kraftstrotzend wir waren. Mit Schwung nahmen wir das Brett auf dem Schutthaufen ins Visier. Den Schwung hatten wir umständehalber falsch berechnet, denn wir fanden uns gleich auf der anderen Seite des Schuttbergs wieder, wenn wir nicht schon vorher seitlich vom Brett gekippt waren. Wir wollten doch nur zeigen, dass wir, wenn nicht besser, zumindest ebenbürtig waren.

Fortsetzung folgt 

Ort (Karte)

0
×
Stay Informed

When you subscribe to the blog, we will send you an e-mail when there are new updates on the site so you wouldn't miss them.

„Rot, röter, am rötesten...“ Das whatsapp-Kunstpro...
26-jähriger Mann gestern in Landsberg lebensgefähr...

Ähnliche Beiträge

 

Kommentare

Derzeit gibt es keine Kommentare. Schreibe den ersten Kommentar!
Bereits registriert? Hier einloggen
Sonntag, 28. April 2024

By accepting you will be accessing a service provided by a third-party external to https://aloys.news/

Anzeige
Anzeigen
Gärtnerei Niedermeier
Werben bei aloys.news

Beliebteste Artikel

21. September 2023
Aktuelles
Ammersee West – Heute ist der letzte Tag des kalendarischen Sommers. Die Seen sind noch warm. Daher informieren wir Sie weiterhin täglich auf aloys.news wie warm oder auch wie kalt aktuell die Seen si...
30756 Aufrufe
23. Juni 2021
Aktuelles
Starnberg/Herrsching – Folgende Pressemitteilung bekam aloys.news gestern von der Gemeinde Herrsching: Liebe Bürger*innen, derzeit häufen sich wieder die Hinweise auf Zerkarienbefall bei Badenden. Vor...
14001 Aufrufe
15. August 2021
Meinung
In eigener Sache – Es wird keinen Lockdown mehr geben, versprechen uns die Politiker. Statt dessen kommt 3G. Gekauft, gekühlt, getrunken? Schön wär's. Geimpft, genesen, getestet. Ich als Eure Gastgebe...
11360 Aufrufe
09. April 2021
Aktuelles
Landkreis Landsberg am Lech – Antigen-Schnelltests haben ihren Namen daher, weil das Ergebnis schnell vorliegt. Sie können nur durch geschultes Personal durchgeführt werden – dafür wird ähnlich w...
10674 Aufrufe
01. Juli 2020
Aktuelles
aloys.news ist die regionale, kostenfreie Online-Zeitung für aktuelle Nachrichten, Meldungen und Beiträge aus den Landkreisen Landsberg am Lech, Starnberg, Fürstenfeldbruck und Weilheim...
9083 Aufrufe