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"Ernesto, der Seebär – Vom Tretauto zum Schlachtschiff" Erinnerungen des 90-jährigen Dießener Ernesto Rudolf Hofmann. Auf der Insel Java geboren, landet er auf seine alten Tage am Ammersee. Der Fortsetzungsroman eines bewegten Lebens: Folge 19

Ernesto Rudolf Hofmann Graphik: Pax et Bonum Verlag

Folge 19

Aber nicht lang danach stand mein Entschluss unerschütterlich fest: Die Häfen nicht nur vom Schiffsheck abzulesen, sondern zu erleben. Ich dachte schon garnicht mehr an die Hellseherin!

Irgendwann begann ich mich nach den Berufsmöglichkeiten umzusehen und erfuhr schon bald, dass mir die Brücke, die Steuermannslaufbahn also, wegen meiner Brille verwehrt war (heute kein Thema mehr). Ebensodie Ingenieurslaufbahn im Maschinenraum. Blieb also nur noch der Radiodienst, der sich im Nachhinein als der tollste Job an Bord überhaupt herausstellen sollte. Außerdem war er ebenfalls und selbstverständlich ein Offiziersrang, sonst wären meine Träume gescheitert. Zwar kapierte ich absolut nichts von Radios, aber wozu gab es Seefahrtsschulen? Die medizinische Musterung ergab keine Gründe, mich wegen einer Brille abzulehnen.

An dieser Stelle möchte ich meiner Mutter ein unvergängliches Denkmal setzen, die mir durch die Jahre hindurch mit harter Arbeit in einer exklusiven Haager Modeboutique („De Duif", Die Taube)die Finanzierung meines Studiums ermöglicht hat. Ohne ihren unermüdlichen Einsatz wäre das alles sehr schwer geworden. Gottlob wurde ihr täglicher Einsatz gut bezahlt, denn sie hatte das Glück, sich ganz schnell zur Leiterin der Pelzabteilung hochzuarbeiten, ein Job, der ihr große Freude machte. - Aber sie konnte auch anders. Bis hierher kennen wir nur ihre Schokoladenseite. Auf eine der nächsten Seiten erleben wir eine Kehrseite der Medaille. Aber ich will der Sache nicht vorgreifen.

Zwei Jahre Seefahrtschulbankdrücken in Rotterdam standen bevor. Da ich aber in Den Haag wohnte, war also Pendeln angesagt. Den langweiligen Schnellzug zwischen den beiden Städten tauschten mein Kollege und ich aber bald ein, als wir notgedrungen eines Tages das kreisförmig übers Land fahrende Bummelzüglein (das berühmte und sogenannte Hofplein-treintje) benutzen mussten und dort ein liebliches Mädchen-Duo kennenlernten, das uns die restliche Zeit, gute anderthalb Jahre, begleiten sollte. Wir freuten uns täglich auf einander und winkten an der nächsten Station aus dem Fenster, um zu zeigen, wo wir saßen. Wenn wir uns wegen der Wochenenden oder Ferien nicht sahen, hatten wir bitterlich Sehnsucht.

Sie waren beide etwas älter als wir und Sekretärinnen bei einer Rechtsanwaltskanzlei in Rotterdam. Morgens früh hatten wir also glücklicherweise den gemeinsamen Anfahrtsweg. „Mein" Mädchen hieß Marie-Louise Pennock (genannt „ML") und war die Tochter des Inhabers der gleichnamigen bekannten Haager Karosserie-Fabrik.

Gleich schon am ersten Tag steckten die beiden mit einer unverschämten Selbstverständlichkeit ihre unverschämt schönen, langen, nackten, braunen Beine in unseren Schoß, angeblich, weil sie immer kalte Füße hätten. Die sollten wir dann gefälligst (allzu gern) wärmen. Ab und zu ein Küsschen drauf, stand auch auf ihrer Wunschliste. So ein Glück hat man nur einmal im Leben. Die gegenüberliegenden Plätze boten sich dazu an und Beschwerden, dass wir dabei etwas falsch gemacht haben könnten, wurden nie laut... Ich war damals noch viel zu unbedarft, um den tieferen Sinn dieser Geste zu erfassen. - Leider habe ich den Kontakt zu ML verloren. Das Einzige, das ich in Erfahrung bringen konnte, war, dass sie später wegen eines Liebeskummers auf Nimmerwiedersehen in ein Kloster abgetaucht ist. Ich konnte nie mehr eruieren, was aus ihr geworden ist. Gottlob war ich nicht der Grund zu dieser unerklärlichen Kurzschlusshandlung, denn eine solche war es. ML war immer ein fröhliches Mädchen gewesen, mit dem wir unendlich viel gelacht haben. Was mag da wohl passiert sein?Mir blutet heute noch das Herz nach ihr.

Nach zwei Jahren hatte ich mein Radiozertifikat für die Seefahrt mit den Wahlfächern elektronische Navigation (Radar, Loran, Decca, damals noch streng militärisch geheim!) in der Tasche. Im Grunde genommen war ich damals militärischer Geheimnisträger und wurde dafür entsprechend vereidigt.

Was ich im Nachhinein unendlich bedauerte - und das wäre unserer Einstellung dem Beruf gegenüber sehr zu Gute gekommen - war die absolute Unfähigkeit unserer Dozenten und des Lehrplanes sowie der Geschäftsleitung, uns das nötige Berufsethos und die Bindung zur Firma

nahezubringen. Wir waren zwar Offiziere, aber unsere Ausmusterung auf der Uniform unterschied sich zu den beiden anderen Berufszweigen unserer Meinung nach ganz erheblich, denn statt goldener Streifen am Ärmel besaß unsere Uniform kümmerlicherweise "nur" dünne karminrote Wellenlinien. Auch die Mütze trug statt eines repräsentativen Reedereiemblemszwar auch den Goldrand, aber dazu nur zwei Initialen. Heute sehe ich das zwar etwas differenzierter, aber damals war es eben ein von uns gefühltes ernstes Manko. Kein Wort wurde auch verloren über die traditionsreiche Geschichte der Niederländischen Handelsschifffahrt, die doch schon ihren Anfang nahm mit der Gründung der Vereinigten Ost-Indischen Compagnie VOC, um uns einzustimmen auf die Tradition der Flagge rot-weiß-blau, unter der wir jetzt fahren sollten. Nichts dergleichen. Dagegen pauken und nochmals pauken.

Glücklicherweise war der Lehrstoff äußerst interessant. Unsere Dozenten waren ausnahmslos altgediente, kriegserfahrene Seefunksachverständige und nur selten gelang es uns, einen von ihnen zum Schwadronieren zu bringen. Einmal gelang uns dieses Wunder bei einem, wie wir uns damals ziemlich despektierlich äußerten, alten Knacker. Er war ein respektheischender alter Kapitän des Rotterdamschen Lloyd, der uns das Fach Seefahrtkunde vermittelte. Und so kam es dann, dass er uns aus seinen Tagen als Steuermann und Kapitän zu erzählen begann und das Stichwort "Kawi" fiel: "Ja, als ich damals noch 3. Offizier auf der Kawi war", etcetera.

Dieser Schiffsname riss mich vom Stuhl und nach der Stunde fragte ich ihn, wann er denn auf der "Kawi" war. Das sei zwischen 1913 und 1915 gewesen. Ich fragte ihn, ob er sich noch an einen Vorfall erinnern könnte, bei dem 1914 in Gibraltar deutsche Passagiere von Bord geholt worden waren. "Ja, da kann ich mich noch ganz genau dran erinnern und wir haben uns fürchterlich über unseren Kapitän geärgert, als er die Engländer, die bereits mit ihren fünf Gefangenen in ihrem Boot saßen, noch einmal zurückholte mit den Worten: „Moment mal, da habt ihr einen vergessen, denn es waren ja sechs Deutsche bei mir auf dem Schiff". Und ich sagte ihm: "Und der sechste war mein Vater!" - So klein ist die Welt … Und das war der Kundendienst der Reederei an bezahlende Passagiere, denen regierungsseitig unbehelligte Überfahrt garantiert worden war!

An dieser Stelle möchte ich einen hier beabsichtigten 100jährigen Rückblick auf meinen Vater etwas aufschieben, da ich noch etwas über Kapitän Hatenboer erzählen möchte, der nach genau 60 Jahren nochmal in mein Leben treten sollte. Ich las kürzlich ein Buch über den deutschen Hilfskreuzer "Komet". Darin schildert Kommandant Robert Eyssen, wie er am 17. August 1941 bei den Galapagos-Inseln im Pazifik einen holländischen Dampfer, die "Kota Nopan" vom Rotterdamschen Lloyd, gestoppt hatte. Dessen Kapitän sei laut Schilderung ein gewisser Kapitän Hatenboer gewesen. Erst las ich darüber hinweg und ein paar Seiten weiter dämmerte es mir. Den Namen kenne ich doch! Zurückgeblättert, und tatsächlich, das war doch mein ehemaliger Seefahrtkundelehrer!

Sein Schiff wurde nicht versenkt, sondern beschlagnahmt und noch während die Kriegshandlungen im Gange waren, von den Galapagos-Inseln über Kap Hoorn durch die englischen Blockaden nach Bordeaux gebracht. Die Ladung war zu kostbar für die deutsche Kriegswirtschaft, als sie den Fischen anzuvertrauen. Unter anderem hatte die "Kota Nopan" Gummi, Zinn und Manganerz an Bord.

Das Tragischste aber an der ganzen Geschichte war, dass die "Komet" eine Kiste mit Kartenmaterial von Niederländisch-Indien erbeutete, die mit der "Münsterland", mit der man sich nahe der Galapagos-Inseln traf, umgehend an den deutschen Marineattaché in Tokio geschickt wurde, der die Karten sofort an die Japaner weiterleitete. Diese Karten waren den japanischen Invasionsstreitkräften von unschätzbarem Wert, da sie jetzt genau wussten, welche Plätze in Niederländisch-Indien sie zu meiden hatten und wo sie ungehindert an Land gehen konnten. So hat das eine europäische Brudervolk das andere an einen unberechenbaren "Verbündeten" ausgeliefert und ihm einen Bärendienst erwiesen.

Die Japaner steckten, mit Ausnahme der dort ansässigen Deutschen, alles, was weiße Hautfarbe besaß, sofort in Lager. Es gab Männerlager und Lager für Frauen und Kinder, die den deutschen Konzentrationslagern an Grausamkeiten in Nichts nachstanden. Es ist in Europa nahezu unbekannt, welche Gräuel sich dort unter japanischer Herrschaft abgespielt haben. Vor allem bei den Frauen herrschte unerträgliches Leid, da die Japaner sich als Herrenmenschen nun der europäischen Rasse überlegen zeigen konnten.

Die Männer wurden nach Burma verschleppt, um am Bau der Eisenbahnlinie von Thailand nach Burma ("River Kwai") zu arbeiten. 116.000 Männer, Soldaten und Zivilisten, kamen dabei um. Auch einem Teil der vorher von den Holländern internierten deutschen Gefangenen erging es nicht viel besser. Sie sollten von Sumatra nach Colombo verbracht werden. Unterwegs, im Indischen Ozean, wurden die drei Schiffe von den Japanern bombardiert. Einem, der "Van Imhoff" von der KPM, fehlte aus unerfindlichen Gründen das Zeichen des Roten Kreuzes und wurde durch einen Bombentreffer versenkt. Im Internet ist viel aufschlussreiches über dieses Schiff zu lesen.

Mit ihr ging der größte Teil der unter Stacheldraht (!) gefangenen Deutschen unter. Von den 483 Gefangenen haben nur 66 die Küste Sumatras erreicht. Schiffsseitig wurde nichts unternommen, sie vor dem Untergang des Schiffes zu befreien. Die Besatzung selbst hat sich vollzählig gerettet. Mein Vater, ebenfalls Deutscher, aber 1934 pensioniert, hat das alles gottlob nicht erleben müssen, aber ihm hätte das gleiche Schicksal geblüht. Es waren Handelsleute, Ingenieure, 38 Missionare und Pflanzer, die ihr ganzes Leben und Können in den Dienst der Holländer gestellt hatten. Aus späteren Berichten erfuhr man, dass die Japaner auch den deutschen "Verbündeten" gegenüber nicht besonders zimperlich waren. So wurden zum Beispiel nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 sämtliche in Ost-Asien befindlichen deutschen U-Boote sofort beschlagnahmt und die Besatzungen ohne Wenn und Aber unter den gleichen Bedingungen inhaftiert. 

Fortsetzung folgt

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