Schriftgröße: +
10 Minuten Lesezeit (1950 Worte)

"Ernesto, der Seebär – Vom Tretauto zum Schlachtschiff" Erinnerungen des 90-jährigen Dießener Ernesto Rudolf Hofmann. Auf Java geboren, landet er auf seine alten Tage am Ammersee. Der autobiographische Roman eines bewegten Lebens: Folge 10

Ernesto Rudolf Hofmann Graphik: Pax et Bonum Verlag

Fortsetzung vom 12.5.2021

Einfacher gesagt: Das Kind ist (immer) das Produkt seiner Erzieher.

Obiges Zitat stammt aus seiner Gralsbotschaft. Man muss den Text ein paar Mal gelesen haben, um den Sinn voll zu erfassen.

Abd-ru-shin ist der Pseudonym von Oskar Ernst Bernhardt (1875-1941), stammt aus dem Persischen und bedeutet "Diener des Lichts". Er war in den 20er und 30er Jahren ein bedeutender deutscher Religionsphilosoph.

Zur Schule gingen wir auf der anderen Seite des Marktplatzes, dort, wo Herr Lehrer Schachtl das Zepter schwang. Das Zepter bestand mehr aus einem "Ochsenfiesl", auf Deutsch: Ochsenziemer. Dieser Gegenstand war noch verhasster als der Lehrer Schachtl selbst, denn er tat weh. Ein Ochsenfiesl ist laut Wörterbuch eine elastische Beinsehne eines Ochsen mit Knubbeln an beiden Enden, die bezwecken sollte, dass wir keine Fehler mehr machten, beim Rechnen zum Beispiel: Ein Fehler bedeutete einmal über die Bank und eins hintendrauf, zwei Fehler etc. Es tat so weh, dass einem schon bei null Fehlern die Tränen kamen. Herr Schachtl scheint exzellente Beziehungen zum örtlichen Metzger gehabt zu haben, denn jedes Mal hatte er sofort einen neuen, wenn wir den anderen entsorgt hatten. Heutzutage würde so jemand wegen Kindsmisshandlung drei Monate im Gefängnis landen, aber damals krähte kein Hahn danach.

Lustig war er, wenn er sich über die Schreibweise seines Namens mokierte. So schrieb meine liebe Schwester, anscheinend wieder einmal wegen eines Verweises, einen Brief an Herrn Lehrer Schachtel. Er hüpfte wie ein HB-Männchen und schrie wie Rumpelstielzchens Oma: "Ich heiße nicht SchachTELLL (hüpf), sondern SchachTLLLL (hüpf)"! Nach so einer Vorstellung musste der richtige Name wohl unvergesslich bleiben. - Mir persönlich ist es wurscht, ob man mich mit einem oder zwei "f" schreibt, Hauptsache, man weiß, wer gemeint ist.

Drei Bilder prägen sich mir noch ein, wenn ich an das damalige Klassenzimmer denke, noch mal abgesehen vom Hauptprotagonisten. Es war ein dunkler Raum durch den Kastanienwald vor den Fenstern. Der Raum bestand aus einer alten dunklen Tür, durch die wir dieses Verlies zu betreten hatten, und aus einer ebenso dunklen Wand- und Deckenvertäfelung. Wir saßen in Dreierreihen an Doppelpulten in einer gemischten Besetzung, oh Wunder! Und das in diesem katholischen Ambiente ... Mein Platz war ganz rechts außen. Vor mir saß ein liebliches Mädchen mit feuerroten Haaren und einer milchweißen Haut. Diese madonnenhafte Erscheinung fesselte mich mehr als die von Herrn Lehrer Schachtel, Verzeihung: Schachtl auf die Tafel gekritzelten Rechenbeispiele.

Eines Tages war ich wieder mal voller Hingabe in ihren Haaren versunken, als ich ganze Bataillone von Läusen entdeckte, die auf dem roten Schlachtfeld um ihre Vormacht kämpften und dort Fang-mich spielten. Ich wurde daraufhin in die linke Reihe innen verlegt, was sich für mich nicht unbedingt als eine Verbesserung herausstellen sollte, eher als einen kürzeren Anmarschweg für Herrn Lehrer Schachtel, Verzeihung: Schachtl, wovon ich dann in erster Linie profitieren konnte, wenn mal wieder Zucht und Ordnung angesagt war.

Ich hatte von jeher schon ein fotografisches Gedächtnis und so erinnere ich mich an das dritte Geistesbild aus dem Klassenzimmer. Es geisterte unter uns Schülern eine italienische Illustrierte herum, auf deren Titelseite groß aufgemacht eine Elektrolokomotive abgebildet war, an deren Puffer sich eine Nonne krampfhaft versuchte festzuhalten. Besonders beeindruckend gezeichnet waren die panischen Gesichter von Nonne und Lokführer auf dem Führerstand, eine Meisterleistung des Zeichners. Die Geschichte scheint gut ausgegangen zu sein, sonst wäre die Zeichnung nicht so mitreißend ausgefallen, aber wir konnten ja damals alle noch kein italienisch.

Besonders widerwärtig fand ich damals (und heute noch) die Behandlung eines etwa gleichaltrigen schwarzen Buben durch die Dorfjugend. Er war der Sohn eines Kameruner Kolonialsoldaten, der wohl gut genug war, während des Ersten Weltkrieges seinen Kopf für seine deutschen Kolonialherren hinzuhalten. Grausam, wie Kinder oftmals sind, wurde er gehänselt, weil er anders war als die anderen.

Natürlich mussten wir auch stramm stehen lernen. Was war dazu geeigneter als ein Jugendklub namens Hitlerjugend, in dem wir mit oder ohne Zustimmung der Eltern zu strammen Kerlchen erzogen werden sollten, so fanden wenigstens die Nonnen. Brüllende Buben, gerade einmal ein paar Jährchen älter als wir, ließen uns mit an die Hosennaht geschraubten Händen solange strammstehen, bis nicht nur die Schultergelenke wehtaten, sondern bis einer nach dem anderen umkippte. Der Begeisterung für diese Spielchen tat das auf Dauer natürlich gehörigen Abbruch. Der Spuk war bei Übertritt in die Oberschule in Tölz sowieso vorbei, nicht aber bevor Herr Lehrer Schachtl noch ein paar Vorstellungen seines Hüpfvermögens zum Besten gegeben hatte, weil die Eltern doch alle wollten, dass ihre Sprösslinge in die höhere Schule kämen und deshalb versuchten, Herrn Lehrer Schachtl bauch zupinseln. Der Elternversammlung gab er sich vor unserer Entlassung jedoch sehr huldvoll, der falsche Tropf.

Vor kurzem war ich wieder mal in Simbach und das Beste, was man hat tun können war, diesen Ort der vielen Verbrechen gegen die christliche Nächstenliebe abzureißen. Wenn ich es vorher gewusst hätte, wäre meinerseits sogar ein finanzieller Beitrag fällig gewesen. - Es ist aber eines zu sagen: Ich habe nirgends, in keinem Kloster, Internat oder sonstiger katholischer Einrichtung auch nur einen Ansatz sexuellen Missbrauchs von Erziehern oder Erzieherinnen Abhängigen gegenüber festgestellt. Die erhebliche Verletzung ihrer Fürsorgepflicht infolge ihrer fragwürdigen Erziehungsmethoden steht auf einem anderen Blatt.

Und so plätscherte meine Schulzeit vor sich hin. Meine Erfolge hingen vom Engagement des betreffenden Lehrers ab, ob er das in uns schlummernde Potential zu wecken wusste oder nicht. Zu guter Letzt traf ich gottlob auf Pädagogen, die mich sogar für die bislang meistgehassten Fächer der Naturwissenschaften und Mathematik zu begeistern wussten, weil ich endlich den Sinn des Erlernten erkannte. Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich auch mein zweites Ingenieursstudium summa cum laude abschloss. Schließlich ist dann doch noch ein anständiger Mensch aus mir geworden, denn mein Interesse ging zunächst in Richtung Sprachen. womit man sich im Berufsleben dann doch etwas schwerer tut. Man sieht, ein Lehrer oder Mentor, der einem die Liebe zum Fach mit einfachen Worten vermittelt, ist mehr wert als zehn Professorentitel, die er nicht unter die Leute bringen kann. Ich habe jedenfalls rechtzeitig durch die richtigen Leute die Faszination der Naturwissenschaften und Mathematik kennengelernt.

Damit habe ich jetzt ungewollt einen riesigen Zeitsprung in meinem Leben gemacht, denn ich wäre hier schon am Anfang meines Berufsweges und so weit sind wir noch längst nicht.

Meine Mutter steckte mich von Anfang an in alle möglichen Internate, wo ich mich immer sehr unglücklich fühlte. Die Englischen Fräulein in Simbach habe ich schon erwähnt und ich habe später keinen einzigen Leidensgenossen getroffen, der an seine Zeit bei den Nonnen oder den Jesuiten positive Erinnerungen hatte. Die Kunst war, den Glauben nicht zu verlieren.

Die nächste Etappe meines noch jungen Lebens verschlug mich nach Bad Tölz, wo ich den Eintritt in die ersten Klassen der Oberschule zelebrieren konnte. Wieder einmal hatte meine Mutter eine Art Internat ausfindig gemacht, um die gesicherte Erziehung ihres Sprösslings weiter zu forcieren, die damals besonders problematisch gewesen zu sein scheint. Ein geschäftstüchtiger pensionierter österreichischer Major - seinen Namen habe ich deswegen vergessen, weil er sowieso immer mit "Herr Major" angesprochen werden wollte - machte aus seinem Hexenhäuschen eine Art Privatinternat und nahm, wenn ich mich noch recht erinnere, so an die 10 bis 12 Buben auf.

Unten befanden sich sein streng mit schweren Vorhängen abgeschottetes Wohnzimmer, zusätzlich durch Schiebetüren gesichert (darüber gleich mehr), die Küche, das Speisezimmer und das Studierzimmer mit drei viereckigen Studiertischen. Wie bei Majors so üblich, ging es streng militärisch zu, manchmal zu streng, fanden wir. Wenn mal wieder das Lineal als Schlagwaffe für Hiebe auf Kopf und Schultern geschwungen wurde, imitierten wir das im Krieg für Radiohörer strengst verbotene Sendezeichen bumbumbum bumm der BBC, ganz leise und diskret. Majors wurde plötzlich kreidebleich und sein gerade im Anflug auf sein nächstes Opfer befindliche Lineal fiel wie eine heiße Kartoffel zu Boden. Den Rest des Abends war er dann handzahm. Und mehr verlangten wir gar nicht. - Das Dachgeschoss war zu entsprechend vielen Einzelkammern ausgebaut.

Wir hatten es den Rest der Zeit nicht schlecht bei ihm. Seine Frau war unbestritten eine österreichische Meisterköchin. Die Qualität des Essens hing in hohem Masse von der Qualität des Gemüses aus dem weiter entlegenen Heimgarten ab, das er mit Liebe hegte und pflegte. Erst später entschlüsselten wir das Geheimnis. Wie so viele Häuser damals, war auch seines noch nicht an die Kanalisation angeschlossen und so gingen all die köstlichen Mahlzeiten nach einem gewissen Verdauungszyklus und in etwas abgewandelter Form über das hauseigene Abwassersystem in eine beim Haus gelegene Odelgrube, andernorts in Deutschland auch als Jauche-, Gülle- oder Sickergrube bezeichnet. Da der Nachschub die berechnete Sickerfähigkeit dieser zeitgemäßen Erfindung bei weitem übertraf, mussten wir diese Grube von Zeit zu Zeit mit einer Art Schöpfeimer an langem Stiel entleeren und zwar in eine mobile Tonne, die schwenkbar zwischen zwei kräftigen Stangen eingehängt war. Vorn war das Rad, an den Enden, wie beim Schubkarren, die Handgriffe. Es war eine geniale Konstruktion, wenn man von einem gravierenden Mangel absieht:

Man musste das Ding unbedingt auf flachem Boden fortbewegen und dabei tunlichst Bodenwellen und Absenkungen wie z.B. ein Trottoir vermeiden. Ich wurde gleich zum Kippwagenfahrer ernannt und so trat ich dann ohne jegliche Vorabinformation oder Einarbeitung meinen verantwortungsvollen Weg an. Vor mir lief der Lotse, um mir den Weg zum Heimgärtchen zu zeigen.

Man ahnt bereits das sich anbahnende Unheil. Die Tonne schlug auf einer mir nicht sichtbaren Bodenwelle auf und übergoss meinen ahnungslosen Lotsen, der hinten keine Augen hatte, mit guten 70 Litern, wenn auch zum Teil selbsterzeugter Gülle. Aus dem daraus folgenden innigen Körperkontakt war nachher gestanklich zwischen Opfer und Täter nicht mehr zu unterscheiden.

Das Geschmacksgeheimnis der guten Köchin lag kurzgefasst darin, dass der biologische Kreislauf durch das Aufbringen des Düngers auf die Salatblätter lückenlos wieder geschlossen wurde. Und wer macht sich da in Hungerszeiten schon groß Gedanken drüber, wenn über dem Blumenkohl einbraun angehauchtes Blättchen Klopapier hängt?

Das Häuschen besaß rundherum im Erdgeschoss hölzerne Fensterläden, die nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen werden mussten. Wir alle hatten fürchterliche Angst im Dunkeln, vor allem ich, da die Englischen Fräulein diesen Gemütszustand schamlos als Waffe auszunutzen wussten. So musste man zur Strafe längere Zeit entweder in ein dunkles Kämmerlein oder in einen dunklen Alkoven vor der Haustür. Bezeichnenderweise wurden nonnenseitig gern Gespenstergeschichten zum Besten gegeben, die natürlich vor allem nachts bis heute ihre Wirkung nicht verfehlten.

Majors Garten, direkt an der Straße gelegen, bot uns Kindern paradiesische Zustände. Eines Winters bauten wir dort eine riesige Burg. Ein Trupp musste Schnee zu Platten stampfen, die der andere kunstvoll zu einer Burg aufschichtete. Schwere Brüstungen gaben dem Ganzen einen martialischen Charakter, innen ausgehöhlt und außen mit Wasser übergossen erschien uns unser Bauwerk schier uneinnehmbar. Wir warteten auf die Gelegenheit, diese Stärke einmal unter Beweis zu stellen.

Die sollte schon sehr bald kommen. Eines Tages marschierte, provokant laut singend, ein Trupp Hitlerjungen vorbei. Dankbare Opfer, die sofort aus erhöhter Position mit Schneebällen eingedeckt wurden. Die ließen sich ihrerseits eine derart gebotene Gelegenheit auch nicht nehmen und stürmten unseren Garten. Der Zaun war das kleinste Hindernis. Sehr zum Missfallen des Majors. Eine heftige, gewollte Rangelei entstand, die erst ein Ende fand, als unser in solchen Sachen erfahrener oberster Kriegsherr im Range eines hochdekorierten österreichischen, wenn auch pensionierten Majors, dem Trubel mit einer Drohung, Anzeige wegen Hausfriedensbruchs zu erstatten, ein vorzeitiges Ende setzte. Das war eigentlich so gar nicht in unserem Sinne, denn wir waren ja mit dem Probelauf unserer Burg noch nicht am Ende.

Der Krieg im Marmeladenglas drohte nun in einen handfesten politischen Eklat auszuarten, denn das ideologische Verhältnis Hitlerjungen zu Majorskindern stand im Verhältnis von 100 zu 0.

Nun ergab sich aber, dass ich irgendwann mit jemandem Freundschaft schloss, der sich später ausgerechnet als der HJ-Führer von Bad Tölz entpuppen sollte. Sein Hauptquartier befand sich stadtauswärts gleich links hinter dem Torbogen. Das Haus hat bis heute die turbulenten Zeiten überdauert. 

Fortsetzung folgt

0
×
Stay Informed

When you subscribe to the blog, we will send you an e-mail when there are new updates on the site so you wouldn't miss them.

aloys.news' Fernsehtipp: Die zwei Herren vom Grill...
Das Donnerstagsrezept No. 29: Italienischer Hackbr...

Ähnliche Beiträge

 

Kommentare

Derzeit gibt es keine Kommentare. Schreibe den ersten Kommentar!
Bereits registriert? Hier einloggen
Samstag, 27. April 2024

By accepting you will be accessing a service provided by a third-party external to https://aloys.news/

Anzeige
Anzeigen
Gärtnerei Niedermeier
Werben bei aloys.news

Beliebteste Artikel

21. September 2023
Aktuelles
Ammersee West – Heute ist der letzte Tag des kalendarischen Sommers. Die Seen sind noch warm. Daher informieren wir Sie weiterhin täglich auf aloys.news wie warm oder auch wie kalt aktuell die Seen si...
30742 Aufrufe
23. Juni 2021
Aktuelles
Starnberg/Herrsching – Folgende Pressemitteilung bekam aloys.news gestern von der Gemeinde Herrsching: Liebe Bürger*innen, derzeit häufen sich wieder die Hinweise auf Zerkarienbefall bei Badenden. Vor...
13988 Aufrufe
15. August 2021
Meinung
In eigener Sache – Es wird keinen Lockdown mehr geben, versprechen uns die Politiker. Statt dessen kommt 3G. Gekauft, gekühlt, getrunken? Schön wär's. Geimpft, genesen, getestet. Ich als Eure Gastgebe...
11342 Aufrufe
09. April 2021
Aktuelles
Landkreis Landsberg am Lech – Antigen-Schnelltests haben ihren Namen daher, weil das Ergebnis schnell vorliegt. Sie können nur durch geschultes Personal durchgeführt werden – dafür wird ähnlich w...
10662 Aufrufe
01. Juli 2020
Aktuelles
aloys.news ist die regionale, kostenfreie Online-Zeitung für aktuelle Nachrichten, Meldungen und Beiträge aus den Landkreisen Landsberg am Lech, Starnberg, Fürstenfeldbruck und Weilheim...
9063 Aufrufe