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7 Minuten Lesezeit (1390 Worte)

"Ernesto, der Seebär – Vom Tretauto zum Schlachtschiff" Erinnerungen des 90-jährigen Dießener Ernesto Rudolf Hofmann. Auf der Insel Java geboren, landet er auf seine alten Tage am Ammersee. Der autobiographische Roman eines bewegten Lebens: Folge 12

Ernesto Rudolf Hofmann Graphik: Pax et Bonum Verlag

Fortsetzung vom 14.5.2021

Wir Marktbreiter Ministranten waren immer für irgendwelche Katastrophen gut – manchmal mit weitreichenden Folgen.

Zunächst möchte ich aber, um falschen Eindrücken von vornherein vorzubeugen, mit Nachdruck betonen, dass wir immer für alle Bewohner unseres Ortes da waren, wenn irgendwo Not am Mann oder Frau war. Dass bei uns ab und zu auch mal was schiefging, gehörte zu unserem Engagement wie das Salz zur Suppe, und wurde durchwegs, unseres Status' wegen, mit Nachsicht begegnet. Wir waren ja auch nur Lausbuben, aber mit einem eigenen Ehrenkodex.

Zäune sahen wir grundsätzlich als Provokation an. Weinberge und Obstgärten ohne Zäune heimzusuchen, hätte unserem Kodex nicht entsprochen. Marktbreit ist Wein- und Obstland mit den herrlichsten Zwetschgen-, Apfel- und Birnbäumen und, da wir viel auf Erkundungstouren waren, schlich sich auch ab und zu mal der Hunger ein. Gärten mit Zäunen, am liebsten mit Stacheldraht, luden zur Einkehr und bald saß in jedem Baum einer von uns. Selbstverständlich waren wir ortsbekannt, aber solange der Bauer (mit Hund) nicht da war, drohte uns keine Gefahr. Brenzlig wurde es nur, wenn der Bauer nicht da war, aber der Hund. Wir fürchteten weniger den Bauern - wir waren immer schneller als er - aber der Hund war schneller als wir und hielt uns im Schach, bis der Bauer (und der Pfarrer) kam, der uns dann auslösen musste. Wir waren der einhelligen Meinung, dass letztendlich nicht wir an der ganzen Aufregung Schuld waren, sondern einzig und allein der Bauer. Warum musste er auch einen Zaun um sein Grundstück ziehen? Er hätte doch langsam wissen müssen, dass wir Wein- und Obstgärten ohne Zaun immer schonten, weil es einfach unserer Ehre widersprach.

Eines Tages aber schreckte Marktbreit wirklich auf durch ein Ereignis, an dem wieder einmal Pfarrer Hahn's Ministranten beteiligt waren, oder besser, es war ein Unfall, der ins Auge hätte gehen können. Eine ganze Legion Schutzengel hatte der Liebe Gott an dem Tag rekrutiert, sodass im Grunde, wenn man von einem Haufen Schrott absah, nichts passiert ist.

Es war ein Kirchenfest, ich weiß nicht mehr welches (Fronleichnam?), zu dem kleine Birkenbäumchen aufgestellt werden. Jedenfalls sollte unsere Kirche geschmückt werden und dazu stellte der Gärtner auf dem anderen Mainufer seine Birkenbäumchen zur Verfügung.

Normalerweise wird die Bestellung vom Lieferanten frei Haus gebracht und geholt. Das war damals nicht so, denn wozu hat man denn Ministranten, die sowas umsonst machen? Nun gut. So wurden wir also zum Gärtner geschickt, die Bäumchen abzuholen. Sie wurden auf einen hölzernen Flachwagen geladen, der mit eisenbeschlagenen Rädern bestückt war. Dagegen ist ja auch weiter nichts zu sagen.

Mit vereinten Kräften schoben wir anschließend das schwere Gefährt über die bucklige Mainbrücke und dann den Kopfstein bepflasterten Berg zur Kirche hoch. So weit, so gut, immer noch.

Irgendwann ist auch das schönste Fest zu Ende und geht's ans Aufräumen. Die Bäumchen sehnten sich schon nach ihrem Herrchen auf der anderen Mainseite. Eingedenk der Mühen, die wir beim Holen hatten, sahen wir die Sache nun wesentlich einfacher, da es jetzt bergab ging. Nachdem die Bäumchen auf dem (zur Erinnerung) mit eisenbeschlagenen Rädern bestückten hölzernen Flachwagen verladen waren, konnte es losgehen. Die Funktionen waren vorher präzise verteilt und zwar so, dass ich den Wagen mit der Deichsel zwischen den Beinen lenken und mein neben mir sitzender "Beifahrer" das Handrad von der Spindelbremse bedienen sollte. TÜV-mäßig soweit alles in Ordnung.

Woran aber mit Sicherheit der Marktbreiter TÜV, wenn's ihn damals schon gegeben haben sollte, auch nicht gedacht hätte, war die ominöse Verbindung Kopfsteinpflaster-Eisenräder. Das hat aber schon, glaube ich, Pythagoras von Samos weit vor Christi Geburt gewusst. Nur, wir waren damals in der Schule noch nicht so weit. Wem hätte auch Böses geschwant? Also kam das Kommando "Alles aufsitzen".

Das Lenken erwies sich als problemlos, ebenso das Bremsen, die Klötze griffen ordnungsgemäß und der TÜV hätte bis dahin seine liebe Freude gehabt. Und ab ging die Post. Fünf Mann auf dem Wagen, Fahrer und Bremser inklusive und zwölf ahnungslose Birkenbäumchen. Vollbeladen, alles gut austariert und so konnte eigentlich gar nichts schiefgehen, wenn (wenn nicht wäre ... ), ja wenn es nicht unten an der Straße eine Kopfstein bepflasterte Rechtskurve gegeben hätte. Gottseidank kam uns kein Luftwaffen-LKW entgegen, denn da gab es ein Ersatzteillager, was die Amis auch wussten und den Ort wenig später in Schutt und Asche legten.

Jedenfalls versagte die Lenkung im entscheidenden Moment, weil's zu glatt war, und die Bremse noch mehr, obwohl mein wackerer Beifahrer heftig kurbelte. Die Folge war, dass ein ohrenbetäubendes Krachen Marktbreit bis in die Grundfesten erschütterte, der Wagen mitsamt seiner menschlichen und pflanzlichen Ladung geradeaus durch die kunstvoll geschnitzte antike Eichentür des in der Kurve stehenden Patrizierhauses donnerte und wir uns wiederfanden in der Eingangshalle zwischen alten Ritterrüstungen inmitten eines Haufens Schrott, bestehend aus den Trümmern der Eichentür und des Wagens. Die Bäumchen haben es nicht überlebt und zwischen dem ganzen Durcheinander fanden sich Arme, Beine, Köpfe und sonstiges menschliches Zubehör. Das war alles ganz, kaum zu glauben. Ein Wunder war geschehen, mitten in Marktbreit. Ob man hier wohl später eine kleine Gnadenkapelle errichtet hat?

Es gab ein solch gewaltiges Bersten, das den halben Ort (mit Pfarrer) zum Platz des Unheils rief. Nach einer Weile Totenstille hörte man klaghafte Stimmchen aus dem Splitterberg, ob jeder in Ordnung sei. Das war jeder, abgesehen von ein paar Schürfwunden und einer Menge blauer Flecken der fünf Ministrantenkinder. Und der Pfarrer tobte. Wer konnte ihm das diesmal verdenken? Musste er doch sein Gesicht wahren, es waren ja schließlich "seine" Buben. Unser durchschnittliches Lebensalter betrug damals doch schon ca. 12 - 13 Jahre.

Wie die Sache weiter ausging, keine Ahnung. Sicherlich war es mit einer Ratssitzung (mit Pfarrer) nicht abgetan. Es folgte ministrantenseits eine längere Periode des Geknicktseins (und der Ruhe im Ort) und sicherlich können sich noch ältere Einwohner Marktbreits daran erinnern, genau wie das alte Putzweiberl an den Klingelbeutel, der ebenfalls auf meine Kappe ging.

Trotzdem kann man mir nicht unbedingt kriminelle Energie nachsagen, ich war halt nur ein durchschnittlicher Lausbub, dem die Gnade der späten Einsicht die Möglichkeit bietet, heute an dieser Stelle seine Erinnerungen zu Papier zu bringen, was andere, die vielleicht noch Schlimmeres ausgefressen haben, bis heute wohlweislich unterlassen haben.

Sicherlich werden die Ministranten von Pfarrer Hahn der damaligen Jahrgänge in die Annalen von Marktbreit eingegangen sein. Mich zumindest führt man sicher seit der Zeit als Ehrenbürger n.h.c. (non honoris causa). Pfarrer Hahn muss bei dieser Truppe Schwielen an den Händen bekommen haben ...

Um meiner Mutter auch mal was Gutes zu tun, schickte ich ihr einmal einen Riesenkarton mit Tomaten. Warum gerade Tomaten, weiß ich nicht mehr, es hätten genauso gut Gurken oder Blumenkohl gewesensein können.

Den schleppte ich zum Bahnhof bergauf, wo sich beim Wiegen zeigte, dass das Bahnfrachtpaket um ein Pfund zu schwer war. Also, mit dem Paket wieder hinunter ins Pfarrhaus, wo ich doch wohnte und um vier Tomaten erleichtert. Danach wurde es in Gnaden angenommen. Anscheinend hat aber der Spediteur, die Bahnamtliche Rollfuhr Gemeinschaft, seinen Auftrag zu wörtlich genommen und ist mindestens je einmal drüber gerollt und gefahren, denn nach einer Woche kamen keine Tomaten bei der Mutti an, sondern Ketchup. Seitdem habe ich den Namen „Bahnamtliche Rollfuhr Gemeinschaft" nie mehr vergessen, vermutlich auch nicht zuletzt wegen seines schwülstigen Titels.

Endlich konnte ich eines Tages Marktbreit hinter mir lassen. Voll Vorfreude auf Zuhause bestieg ich, wie sich herausstellte, einen Soldatenzug. Als Stimmungskanone entpuppte sich in dem Abteil ein junges Mädchen mit einer Ziehharmonika, die für Bombenstimmung an Bord sorgte. Da wir weit nach Mitternacht am Hauptbahnhof ankamen und keine Straßenbahnen mehr fuhren, ließ sie mich mit dem schweren Koffer nicht mehr nachhause, nahm mich mit zu sich und fütterte mich erst mal ab. Dann steckte sie mich zu ihrem kleinen Bruder ins Bett und ich schlief ein wie ein junges Baby im Urlaub. Am nächsten Morgen sah ich erst, wie schwer beschädigt ihre Wohnung war. In den Wänden klafften riesige Löcher und Risseund es war ein Wunder, dass das Haus überhaupt noch stand.

Dieses goldige Engelswesen hat sich rührend um mich gekümmert. Nach einem Frühstück setzte sie mich samt Koffer in die Straßenbahn Richtung Herkomerplatz, wo sich meine Mutter schon Sorgen machte, weil ich noch nicht zuhause war. - Das sind Erlebnisse, wobei es einem immer noch warm ums Herz wird und die man nie mehr vergisst. Es wohnen mehr Engel unerkannt auf unserer Erde als wir ahnen...

Anschließend durfte ich dann einige Zeit zuhause verbringen. 

Fortsetzung folgt

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