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Das »Wadlbeissn« lässt keinen Stechschritt zu. Über die bairischsprachigen Gedichte im Werk von Anton G. Leitner. Von Paul-Henri Campbell

Anton G. Leitner. Foto: Boerboom

Weßling – Dass Poesie ins Ohr geht, dass sie der Welt abgerungen wie auch abgelauscht sein will, dass sie vornehmlich akustisches Kunstwerk sein kann und sie daher oft sozusagen nur behelfsweise niedergeschrieben ist, wird nicht bei jeder Wasserglaslesung deutlich: Denn wann immer Dichter*innen gelegentlich stotternd damit zu ringen scheinen, wieder mit den Lippen das zu entziffern, was sie zuvor mit den Fingern getippt haben, fällt der Graben zwischen gesprochener und geschriebener Poesie auf. Doch das Hören, das Schreiben und das Sprechen verhalten sich in der Poesie von Anton G. Leitner treu zueinander, ja sie sind aufeinander verwiesen und spielen vergnügt miteinander. In der äußerst knappen Verssprache Anton G. Leitners spielt der mündliche Vortrag eine herausragende Rolle: Seine Dichtung gewinnt einen besonders listigen und hintersinnigen Humor. Für diesen Realpoeten ist die Poesie weder eine geduldige noch eine stumme Muse auf dem Papier, sondern eine vollmundige, gemeinschaftsstiftende, anarchistische Gespielin für Leute, die wissen, wie man sich mit Sprache amüsiert – oder mit ihr zubeißt.

Gerade in den ersten zwanzig Jahren des 21. Jahrhunderts befreite sich die deutschsprachige Dichtung zunehmend aus dem phonetischen Korsett, in das sie einmal preußische Schulmeister gezwängt hatten und an dem die bürgerlichen Fetischisten der sogenannten Hoch- und Leitsprache bis heute festzuhalten versuchen. Schriftsteller*innen wie z. B. Feridun Zaimoğlu, Uljana Wolf, Róža Domašcyna oder Fitzgerald Kusz experimentierten mit der deutschen Prosodie: knackten sie auf, erweiterten sie, führten jenseits bzw. abseits des Hochdeutschen durch die Vielfalt von Dialekten und Soziolekten größere Schwingungen des poetischen Klangs herbei. Es war ihnen anders als etwa bei Arthur Schnitzlers »Lieutenant Gustl«, weniger wichtig, Dialekt und Soziolekt zur Milieumarkierung zu instrumentalisieren. Diese Dichter*innen erweiterten mit dialektalen und soziolektalen Färbungen die Klaviatur des poetisch Möglichen. Sie nahmen die Abweichungen in Grammatik und Betonung von der Hochsprache als Chancen für die poetische Rhythmik und Phrasierung der Gedichte wahr und nutzten realsprachliche Färbungen, um mit Dialekt und Soziolekt eine Verschiebung des lyrischen Ichs zu markieren, die sonst durch die sogenannte Schriftsprache ungenutzt oder blass geblieben wäre.

Schon in seiner Anthologie »Ois is easy. Gedichte aus Bayern« (2010) beschäftigte sich Anton G. Leitner intensiv mit der pulsierenden poetischen Vielfalt im weiß-blauen Freistaat. Wenn nun also dieser Dichter zwei Bände in bairischer Sprache in sein Werk einträgt (im Jahr 2016 »Schnablgwax« und fünf Jahre später, 2021, »Wadlbeissn«), geschieht dies nicht so sehr, weil das Bairische ›seine‹ Sprache wäre – dass er des Hochdeutschen poetisch mächtig ist, hatte er zuvor bereits drei Jahrzehnte lang bewiesen – sondern um sein Spiel mit der Sprache noch ärger treiben zu können. Bairisch ist für ihn keine identitäre Tonart, vielmehr eine Farbpalette, die alles in ihre robuste Melismatik aufzunehmen weiß: Sie schreckt nicht davor zurück, englische Begriffe wie »Homeschooling« zu »Houmskuuling«, »Me too« zu »I aa«, »Hotline« zu »Hoddlein«, »SUVs« zu »EssJuWies« oder »Morning has broken« zu »Moaning häs broukän« umzufärben und macht genüsslich lateinische Wendungen wie »Studium generale« zu »Schdudium generaale«; nicht zu vergessen, auch die Übersetzungsleistungen von Konzepten wie z. B. »Ökostrom« in »Sauwan Bioschdroom« oder »welche Unmengen / von Alkohol sie konsumieren« in »wos füa vasuffane / Wogscheiddl dass san«.

Dichtung ist bei Anton G. Leitner nicht bloß Hirn, Scharfsinn und Logos, sondern auch Sprechorgan und Gehörknöchelchen; sie ist nicht nur Schriftbild, sondern vor allem Zungenschlag und Gespräch.

Was hier also scheinbar volkstümlich daherzukommen scheint, ist seine angriffslustige, anarchistische, höchst moderne Dichtung, die den Dialekt keineswegs als heimelige Putzigkeit begreift, sondern als ein Stilmittel, das die satirische Haltung des lyrischen Ichs kodiert und perspektiviert. Darüber hinaus aber schenkt Anton G. Leitner seinen Zuhörer*innen ein faszinierendes poetisches Erlebnis; und dürfte wohl mit der Gegenüberstellung von Dialektgedicht und hochdeutscher Übersetzung eine einzigartige Materialsammlung für das Studium von Phonetik und Schriftsprache geschaffen haben.

Der Lyriker Paul-Henri Campbell (*1982, Boston/USA) erhielt 2017 den Bayerischen Kunstförderpreis (Literatur) und 2018 den Hermann-Hesse-Förderpreis. Zuletzt erschien »nach den narkosen« (2017). Er wohnt in Unterfranken und Wien. 

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